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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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nicht nachgegeben – und darum, ja, möchte ich dich bitten. Du brauchst gar nicht auszusteigen. Während der Beerdigung kannst du in der Gegend herumfahren, wenn du möchtest.«
    Es spricht wahrscheinlich nicht gerade für mich, Marlais, aber ich war froh über die Gelegenheit, mit Tilda allein sein zu können, und auch darüber, dass ich nicht im leeren Haus oder bei meinem Onkel sein musste, der sicher völlig fertig mit den Nerven war. Also sagte ich sofort zu. Tilda trank zwei Tassen Kaffee, und ich schenkte mir ebenfalls eine zweite Tasse ein. »Ich geh jetzt hinauf«, sagte sie, »und zieh mir mein schwarzes Kleid an.«
    Eine Viertelstunde später fuhren wir ostwärts durch Bass River und Portapique bis nach Glenholme, wo wir auf eine recht gepflegte Schotterstraße abbogen. Es ging schließlich nach Norden, dann allmählich Richtung Westen, vorbei an Londonderry Station, wo ich langsamer fuhr, um die schmale Schotterstraße nach Lorneville nicht zu verpassen. Das Einzige, was Tilda während der ganzen Fahrt sagte, war: »Also, dieses Kleid ist eigentlich ganz bequem.«
    Der Friedhof lag in Sichtweite des Ortes Lorneville. Er war mindestens doppelt so groß wie der Friedhof von Great Village. Das Begräbnis war für zehn Uhr vormittags angesetzt, und wir trafen pünktlich ein. Reverend Greene musste zu Fuß gekommen oder von jemandem hergebracht worden sein, denn es war weit und breit kein anderes Auto zu sehen. Tilda strich ihr Kleid glatt und steckte sich eine Klammer ins Haar. »Also gut, dann gehen wir. Ich fühle mich, als hätte sich seit gestern so viel Trauer und Schmerz in mir angesammelt wie Wasser in einer
Regentonne. Ich fürchte, die alte Mrs. Drake wird mit Tränen richtig überschwemmt werden. Aber vielleicht halte ich mich auch zurück, um alles für die Nachricht über Mom aufzusparen. Wir werden sehen.«
    Sie versuchte zu lächeln, doch es wollte ihr nicht recht gelingen, und als sie ausstieg, ging ich mit ihr. Ich blieb etwa drei Grabsteine hinter ihr beim Zaun stehen. Reverend Greene trug einen Filzhut und einen schweren Mantel, denn es war kalt und windig, und man hatte das Gefühl, dass es gleich anfangen könnte zu schneien. Tilda hingegen trug keinen Mantel. Wie sich zeigte, war das Grab schon zugeschüttet, aber das spielte ja im Grunde keine Rolle. Als Tilda zu ihm trat, sagte Reverend Greene: »Fangen wir an, Miss Hillyer?« Nachdem er ungefähr zehn Worte aus der Bibel gelesen hatte, blies ihm der Wind den Hut vom Kopf und wirbelte ihn über die Erde und gegen einen Grabstein. Er machte sich nicht die Mühe, ihn aufzuheben. Er sprach kurz über Mrs. Winslow Drakes Leben, das sie Christus, dem Erlöser, ihrer Familie und den Freunden gewidmet habe und auch dem Bemalen der Miniatursegelschiffe, die ihr Mann, Abial Drake, gebaut hatte und die die Kaminsimse in vielen Nachbarhäusern zierten. Reverend Greene sah immer wieder zu mir herüber, vielleicht weil es der Zeremonie einen etwas würdigeren Rahmen verlieh, dass wenigstens drei Leute anwesend waren.
    Der Wind heulte über den Friedhof, doch ich verstand trotzdem das meiste, was er sagte, bis hin zum Vaterunser. Nach dem »Amen« fügte Reverend Greene hinzu: »Und, Herr, ich möchte auch ein Gebet für Mrs. Winslow Drakes Töchter Sadie und Vivian sprechen, die mit ihren Ehemännern und Kindern in London leben und jeden Tag neue Bombenangriffe fürchten müssen. Bitte beschütze sie, damit sie eines Tages das Grab ihrer
Mutter sehen können und vielleicht ganz nach Neuschottland zurückkehren.«
    Er nickte Tilda zu, trat zur Seite, und Tilda begann mit ihrem Beitrag. Ich fragte mich, ob Reverend Greene je eine professionelle Klagefrau bei der Arbeit gesehen hatte. Wie meine Tante gern sagte, machte Tilda selten halbe Sachen, und ihre Totenklage auf dem Friedhof von Lorneville bildete keine Ausnahme. Außerdem wollte sie sich einen Ruf erwerben, und so war das hier eine Chance, Reverend Greene zu beeindrucken. Vielleicht würde er sie in der ganzen Provinz weiterempfehlen. Doch angesichts der düsteren Gedanken an ihre Mutter glaube ich nicht, dass sie ihre berufliche Laufbahn vor Augen hatte, als sie seltsam marionettenhaft mit den Armen gestikulierte, heulte und klagte. Für mich sah es jedenfalls wie ein echter Gefühlsausdruck aus. Als Tilda auf diesem windigen Friedhof eine ihr völlig fremde Frau betrauerte, erinnerte ich mich daran, wie steif ich am Grab meiner eigenen Eltern gestanden hatte, wie unwirklich mir alles

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