Der Schlittenmacher
findest du deinen Empfang zu Hause?«, sagte sie schließlich.
»Nicht so schlimm, dass mir der Appetit auf diese Scones vergangen wäre«, antwortete ich, und sie lachte. »Hast du übrigens Tilda heute schon gesehen?«
»Sie hat jeden Tag um diese Zeit ein Rendezvous«, antwortete Cornelia.
»Wo … mit wem?«, fragte ich.
»Am Kai in Parrsboro – mit ihrem verstorbenen Mann. Und ich meine wirklich jeden Morgen. Sie trauert um ihren Mann. Und es ist ihr egal, wer ihr dabei zusieht, Schulkinder oder Fischer, ganz egal. Wenn man etwas so regelmäßig tut, dann gewöhnen sich die Leute nicht nur dran, sondern es wird für manche etwas völlig Normales, das einfach dazugehört. Man sagt, sie macht es sehr würdevoll.«
»Ich verstehe es auch – Hans war immerhin ihre große Liebe. «
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sie redet laut und erzählt Hans, wie es gestern bei ihr gelaufen ist. Solche Sachen eben.«
»Wann hat das mit den Rendezvous angefangen?«, fragte ich.
»Am ersten Tag nachdem du und Donald nach Halifax gebracht worden seid«, sagte Cornelia. »Manchmal finde ich es bewundernswert, aber eines steht fest – es ist schon irgendwie ein Rätsel und geht viel weiter als eine normale Verbundenheit einer Frau mit ihrem Mann.«
»Ist sie verrückt geworden, Cornelia? Könnte das sein?«
»Na ja, in einer Ehe kommt es ja öfter vor, dass die Frau das Gefühl hat, der Mann hört ihr nicht richtig zu. Dann redet sie eben immer weiter, bis er’s hört«, sagte Cornelia lächelnd. »Nein, Scherz beiseite – wenn Tilda verrückt ist, dann höchstens verrückt vor Schuldgefühlen. Wenn sie nicht jeden Morgen runter zum Kai ginge, dann würden die Schuldgefühle sie auffressen.«
»Was denn für Schuldgefühle?«, fragte ich.
»Tilda hat mir selbst gesagt, sie hätte Hans an dem Abend nicht mit dir zum Haus gehen lassen dürfen. Sie glaubt, wenn sie dabei gewesen wäre, hätte Donald den Mord nicht begehen können. Ich bin mir da nicht so sicher, aber auf meine Meinung kommt’s ja nicht an.«
Als ich wieder zu Hause war, ging ich hinüber in die Werkstatt. Drinnen roch es muffig, und die Schlitten standen kreuz und quer herum. Tilda hatte die Zeitungsausschnitte von den Wänden genommen. Ich machte die Fenster auf und ließ frische Luft herein. In den Ecken hingen Spinnweben. Ich wischte sie mit einem Besen weg. Es musste ebenfalls Tilda gewesen sein, die den Papierkram in drei getrennten Stapeln, die mit Gummibändern zusammengehalten waren, auf die Werkbank gelegt hatte: Rechnungen, Bestellungen und sonstige Korrespondenz. Ich setzte mich hin und sah alles durch. Nach einer Stunde dachte ich mir: Na ja, von irgendwas musst du ja leben, also sehen wir mal, was wir tun können.
Ich ließ das Mittagessen aus und schrieb an alle Kunden, die einen Schlitten bestellt hatten – der natürlich längst hätte geliefert werden sollen. Ich begann jeden Brief mit den Worten: Mein Onkel Donald Hillyer ist nicht mehr in diesem Geschäft tätig. Ich bin Wyatt Hillyer, sein Neffe, und habe das Handwerk bei
ihm gelernt. Ich werde das Geschäft weiterführen, und ich denke, Sie werden mit meiner Arbeit zufrieden sein .
Aber weißt du, Marlais, in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, ob ich den Papierkram ganz allein schaffen würde, geschweige denn all die Schlitten allein bauen konnte. Außerdem wusste ich ja gar nicht, wie viele von diesen Kunden überhaupt noch einen Schlitten haben wollten. Aber was blieb mir anderes übrig? Ich war fast dreiundzwanzig, und ich hatte nichts anderes gelernt. Die Vorstellung, mir Arbeit auf einem Hummer-oder Fischerboot zu suchen, war ebenso beängstigend wie lächerlich. Wer hätte mich denn schon angeheuert? Was war ich überhaupt noch in diesem Dorf?
Ein Außenseiter , dachte ich. Der Groll, den mich Leonard spüren ließ, bestätigte meine Befürchtung, dass ich Schande über meine Nachbarn gebracht hatte. Und was war eigentlich meine persönliche Meinung – sollte Reverend Witt für Hans Mohring beten oder für die Erlösung meines Onkels? Warum betete er nicht einfach für beide gleichermaßen? Immer wieder überlegte ich, wie sich das Ganze zum Guten wenden könnte, doch am Ende war ich doch wieder ratlos. Natürlich dachte ich auch daran, aus Middle Economy wegzugehen und alles hinter mir zu lassen. Ich stellte mir sogar vor, von Randall Webb in seinem Musikladen angestellt zu werden. Das Haus meiner Eltern war vermietet – an ein kinderloses Paar namens
Weitere Kostenlose Bücher