Der Schlüssel zum Tode Kommissar Morry
schlafe nachts keine Stunde, wenn ich allein bin. Die ewige Furcht...“
„Vor wem hast du Furcht?“
„Vor Mack Rupper.“
„Wieso denn? Er ist doch weg.“
„Nein, er ist da. Ich habe ihn erst gestern nacht gesehen. Er stand unten am Lofting Oval und spähte zu mir herauf. Er rief sogar meinen Namen. Ich hörte seinen Pfiff. Einen dünnen, schneidenden Pfiff. Das kann niemand nachmachen. Er ist es gewesen. Ich weiß es.“
Ralph Condray nahm zaudernd die Schlüssel vom Tisch und ließ sie nach einer Weile in der Tasche verschwinden.
„Gut“, sagte er rasch atmend. „Ich komme mit. Warte hier auf mich, bis ich fertig bin.“
Es war nicht mehr weit bis zur Sperrstunde. Das Lokal leerte sich. Auch die einstigen Freunde Mack Ruppers waren schon gegangen. Eine Lampe nach der anderen erlosch.
„Schluß für heute“, verkündete schließlich Ruth Bonfield mit heller Stimme. „Ich brauche Sie nicht mehr, Mr. Condray. Sie können gehen.“
Ralph Condray half Maud Ruby in den Mantel und geleitete sie zur Tür. Ein stürmischer Herbstwind empfing sie auf der Straße. Kalt schlug ihnen der Regen ins Gesicht. In den Rinnsteinen gurgelte schmutziges Wasser.
„Wir haben nicht weit“, sagte Maud Ruby leise. „Komm! Du kennst ja den Weg. In fünf Minuten sind wir da.“
Sie gingen schweigsam nebeneinander her. Schon nach wenigen Schritten waren sie völlig durchnäßt. Der Wind drang durch die dickste Kleidung bis auf die Haut.
„In der Taverne hätte ich es gemütlicher gehabt“, seufzte Ralph Condray. „Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund auf die Straße. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, daß Mack Rupper plötzlich wieder aufgetaucht ist. Und warum solltest du dich vor ihm fürchten? Früher bist du seine Liebste gewesen. Du hast ihm sicher manche Zärtlichkeit geschenkt. Warum läßt du ihn nicht einfach ein? Vielleicht will er nur einen Kuß von dir haben?“
Maud Ruby schwieg. Ihr Gesicht war blaß, ihr Mund schmerzlich verzogen. Man sah ihr an, wie sehr sie seine Worte quälten.
„Warum fürchtest du dich vor ihm? Sag doch endlich die Wahrheit! Du bist doch bis zuletzt seine treue Braut gewesen?“
„Nein“, flüsterte Maud Ruby scheu. „Das stimmt nicht.“
„Warum stimmt das nicht?“
„Ich habe ihn zuletzt gehaßt“, gestand sie mit brüchiger Stimme. „Ich haßte ihn mehr als den Teufel. Er wußte das auch. Er bedrohte mich immer wieder mit dem Tode.“
„Ach“, spottete Ralph Condray bitter. „Nun kommt das alte Märchen, wie? Ein herumgestoßenes Mädchen, das ohne Eltern aufgewachsen ist. Schlechte Freunde, Hunger und keine Arbeit. Da blieb dann als einziger Freund nur Mack Rupper übrig. Ausgerechnet ein Mörder mußte es sein.“
„Damals war er kein Mörder“, sagte Maud Ruby herb. „Ich hielt ihn für einen anständigen Mann. Er sagte mir nicht, welches Geschäft er betrieb. Ich glaubte seinen Worten. Ich hielt ihn für einen Vertreter.“
„Und als ihn dann die Polizei zu jagen begann?“
„Da wollte ich weg von ihm“, sagte Maud Ruby kummervoll. „Ich habe ihm ins Gesicht geschrien, wie sehr ich ihn verabscheue. Ich sagte ihm auch, daß ich ihn nicht decken würde. Ich wartete darauf, daß ihn die Polizei verhaften würde. Ich sehnte brennend diese Stunde herbei. Ich wäre dann endlich frei gewesen.“
„Du hättest doch auch so von ihm Weggehen können?"
„Nein“, seufzte Maud Ruby bedrückt. „Ein Zeichen, wie schlecht ihr alle Mack Rupper kennt. Er hätte mich getötet, noch ehe mir der erste Schritt in die Freiheit gelungen wäre. Er hätte mich nie weggelassen. Ich lebte wie eine Sklavin in meiner eigenen Wohnung.“
„Ich glaube kein Wort von dieser ganzen Geschichte“, warf Ralph Condray mürrisch ein. „Sie klingt so kitschig wie ein billiger Schundroman. Wollen wir nicht mehr davon reden. Es widert mich an.“
Daraufhin wagte Maud Ruby wirklich kein Wort mehr zu sagen. Sie ging schweigsam neben ihm her. Bitternis und Verlorenheit malten sich in ihrem aparten Gesicht.
Sie erreichten das rote Backsteinhaus am Lofting Oval in Islington. Maud Ruby schloß die Türe auf. Nebeneinander gingen sie auf die steile Treppe zu. Als sie oben angekommen waren und vor der Wohnung standen, hatte Ralph Condray wieder das beklemmende Gefühl, als hätte hinter dieser Tür sein Leben eine schicksalhafte Wende genommen. In dieser Wohnung hatte sein ganzes Unglück angefangen. Und dabei hatte er die dumpfe Ahnung, als stünde ihm das Schwerste
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