Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
aus der Mitte des Raums, ein undeutlicher menschlicher Umriss im Halbdunkel. Er hält ihre nassen und stinkenden Kleider in der Hand, und dem Jungen, der aus Platzmangel nur dem Raum zugewandt auf der Seite liegen kann, steigt der Gestank in die Nase.
Vielleicht um uns zu retten, sagt Jens hinter dem Jungen. Eigentümlich, wie sich eine bekannte Stimme verändert, wenn man den Betreffenden nicht sieht.
Das sähe ihr ähnlich, brummt Hjalti, der auf der Bettkante sitzt und sich auszieht. Sein großer weißer Körper leuchtet im dunklen Dämmerlicht. Er sitzt nackt und reglos da, trotz der Kälte, die sich ausbreitet, seit sie den Ofen haben ausgehen lassen.
Bjarni wirft ein: Verstorbene wandern nicht in die Berge, das haben sie nie getan.
Hjalti: Ich kenne Leute, die so einiges sowohl gesehen wie auch am eigenen Leib erlebt haben. Was ist mit all den Geschichten, kann man auf die gar nichts geben?
Bjarni: Geschichten sind nicht die Wirklichkeit.
Hjalti: So? Was zum Teufel sind die Geschichten dann?
Bjarni: Ich weiß es nicht.
Hjalti: Aber als du auf Berg gewohnt hast, hast du auch so manches wahrgenommen. Und es war dir auch nicht ganz geheuer, als wir diese Männer hier draußen gehört haben.
Bjarni: Das ist nicht das Gleiche. Wer rechnet bei einem solchen Sturm schon mit Besuch? Habt ihr wirklich etwas gesehen? Wart ihr nicht einfach nur müde und kaputt?
Jens: Irgendwas war da wahrscheinlich.
Der Junge: Ich habe eine Frau gesehen. Klar und deutlich.
Bjarni: Ich begreife das nicht.
Hjalti: Teufel noch mal, nur Gott allein begreift.
Dann kommt die Nacht.
Hjalti legt sich mit seinen mehr als hundert Kilo schwerfällig zurecht und fängt sofort an zu schnarchen. Wer ein ruhiges Gewissen hat und sich vom Leben nicht beirren lässt, schläft schnell ein, so als ruhe ein Segen auf ihm. Auch Jens ist eingeschlafen und Bjarni ebenso, nachdem er sich noch etwas herumgewälzt und vor sich hin geflüstert und geseufzt hat, inzwischen aber schläft auch er, und das Schnarchen von drei Männern durchsägt die abkühlende Luft im Raum. Die alte Frau ächzt leise in ihren Träumen, der Junge liegt an die Bettkante gequetscht und spürt jedes Mal, wie Jens ihn bei jedem Atemzug zur Seite presst. Schlafe ich also nicht, denkt er verzweifelt und wünscht sich so sehr Ruhe, Schlaf, Erholung und von hier fort. Ich schlafe nicht, flüstert er und schläft doch ein.
Von einem Geräusch wacht er auf. Es ist noch dunkel, alle schlafen. Nur der Sturm, denkt er verschlafen, hört das Geräusch dann aber wieder. Es scheint aus dem Hausflur zu kommen. Der Hund? Er öffnet die Augen und schließt sie sofort wieder, als er Nellemann an seinem Platz erblickt. Hölle, denkt er voller Angst und ist überzeugt, dass sie mit ihren toten Augen den Gang entlangkommt. Er lauscht, hört aber nichts mehr, öffnet die Augen einen Spalt und sieht den kleinen Sakarías vor sich; er ist aufgestanden und schaut sich vorsichtig um, als ob er herausfinden wolle, ob die Welt gut oder schlecht sei. Der Hund jault leise, und der Kleine lässt sich auf alle viere herab und krabbelt so schnell er kann auf den Hund zu, der aufsteht, um sich um das Kind herumlegen zu können. Er leckt ihm das Haar, dann schlafen beide zusammen ein, ein kleiner Knirps und ein großer Hund. Vielleicht kennt die Welt ja doch Nachsicht. Lässt der Sturm nicht auch nach? Es dröhnt nicht mehr ganz so arg auf das Haus ein. Eingeklemmt am Abschlussbrett des Bettes, muss der Junge lächeln, weil er nämlich geglaubt hat, der Sturm würde sich nie mehr legen und er und Jens müssten in diesem schrecklichen Unwetter von Hof zu Hof wandern, solange die Erde sich dreht. Vielleicht wird es Frühjahr, denkt er und merkt, wie der Schlaf mit einem Sack voller Träume zurückkommt. Undeutlich bekommt er noch unterdrückte Geräusche von Bjarni mit und stemmt noch einmal die Augen auf. Der Hausherr schlägt um sich. Der wird von einem Albtraum gequält, denkt der Junge und schließt schnell wieder die Augen, um den Schlaf nicht zu verscheuchen.
Außer der Greisin sind Jens und der Junge allein im Raum. Der Junge erwacht abrupt und richtet sich auf, ist aber noch ganz benommen von seinen Träumen. Jens steht mit nacktem Oberkörper am Ofen und versucht sich zu wärmen.
Der Sturm lässt nach, sagt der Hüne, und es stimmt, kein Wind zerrt am Dach, die schrägen Fenster sind sogar vom Schnee befreit, Tageslicht fällt herein, es ist deutlich das Rauschen des Eismeers in der Stille zu
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