Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
den Ort, an dem alles endet und nur noch Leere vor einem liegt. Alle Wege führen von hier weg.
Und es führt keiner hierhin?, fragt Bjarni.
Der Junge lächelt entschuldigend und verlegen: Wahrscheinlich stimmt das alles gar nicht.
Bjarni: Ist schon in Ordnung. Aber es lebt sich gut hier, viel Fisch im Meer und Vögel in den Felsen, wir haben fünfzig Schafe und unsere Ruhe, es gibt hier keinen, der einen herumkommandiert. Wer hier lebt, ist ein freier Mensch. Das Ende der Welt – was ist das? Was für dich das Ende der Welt bedeutet, ist für mich mein Zuhause.
Rudert ihr nur zu zweit raus?, fragt der Junge.
Ein Dritter wäre nur im Weg, erklärt Bjarni. Hjalti arbeitet gut und gern für zwei, wenn nicht für drei. Früher bin ich ganz allein gerudert. Man muss nicht sonderlich weit raus.
Keine Kühe?, erkundigt sich Jens.
Nein, sagt Bjarni. Wir haben lange eine gehabt, aber sie hat sich einsam gefühlt und gab nicht mehr viel Milch. Kühe sind gesellige Tiere. Manchmal brüllte sie tagelang die Berge an. Ich wollte sie schlachten, habe es aber wegen der Kinder nicht getan. Dann bin ich mit ihr nach Stóruvík hinüber und habe sie da verkauft. Da hatte sie dann Gesellschaft.
Das war nett von dir, die Kuh am Leben zu lassen, sagt der Junge. Ich meine, den Kindern zuliebe.
Bjarni zuckt die Schultern. Tot wäre sie natürlich mehr wert gewesen als lebendig.
Der Junge: Und noch einmal wolltest du dir keine zulegen, und dann am besten gleich zwei?
Bjarni: Wer kann sich schon zwei Kühe leisten? Und wo soll ich das Heu für einen solchen Viehbestand hernehmen? Schafsmilch muss reichen. Wenn das Frühjahr erst spät kommt, wird es natürlich ein bisschen knapp, aber verhungert ist noch keiner, und zwei, drei Wochen mal ein bisschen weniger Abwechslung auf dem Speisezettel bringt einen nicht um.
Aber, kann sich der Junge nicht zurückhalten, ihr bekommt doch fast nie Besuch!
Bjarni: O doch, letzten Oktober erst! Und jetzt ihr.
Wenig von Besuch behelligt, das ist gut, wirft Jens ein.
Draußen bellt der Hund, ein Kind lacht. Bjarni setzt eine gewichtige Miene auf und scheint kurz nicht zu wissen, wohin mit den Armen, doch dann geht es vorbei. Ich habe nicht damit gerechnet, vor Mai Besucher zu sehen, sagt er. Im Frühling kommen die richtigen Kutter hier herauf, sogar aus dem Ausland. Die kaufen Eier und Wasser von uns, und man bekommt schöne Dinge dafür, die Kinder Schokolade und Ásta … tja. Er bricht ab und guckt in die Luft, dann bietet er Jens einen Priem an.
Der ist gut.
Ja, der ist gut.
Aber, fängt der Junge wieder an, und Jens flucht unterdrückt, es muss doch manchmal verflixt schwer sein, zehn Monate lang nichts von der Welt mitzubekommen. Nicht auf dem Laufenden zu sein.
Wozu sollten wir uns auf dem Laufenden halten?, wundert sich Bjarni. Und womit? Was helfen einem denn Nachrichten aus fernen Gegenden?
Wieder bellt der Hund.
Nellemann ist ein Weibchen, sagt Bjarni. Spielt keine Rolle, fährt er fort, als die beiden ihn fragend ansehen. Dann wendet er sich an Jens: Du siehst mir auch so aus, als hättest du Kräfte für zwei, genau wie Hjalti.
Jens zuckt mit den Schultern.
Ich bin selbst kein Schwächling, fährt Bjarni fort. Wir drei könnten fast für sechs zählen, und das könnte reichen.
Jens: Reichen? Wofür?
Bjarni: Um Ásta nach Sléttueyri zu bringen.
Heißt das, sie ist noch hier?, fragt der Junge und sieht sich unwillkürlich um, als rechne er damit, dass sie gleich auftauchte.
Bjarni: Ich hatte mir gedacht, den Frühling abzuwarten und sie dann mit dem Boot zu überführen. Dazu muss ruhiges Wetter sein, es ist nämlich ein ordentliches Stück zu rudern bis Sléttueyri. Aber jetzt kann ich nicht länger warten.
Warum nicht? Der Junge kann sich einfach nicht zurückhalten, er wollte die Frage unterdrücken, aber sie ist ihm entschlüpft, ehe er sich’s versah. Bjarni scheint sich allerdings fast darüber zu freuen.
Ich habe letzte Nacht schlecht geträumt, beeilt er sich zu sagen und spricht schnell, als müsse er etwas Unangenehmes dringend loswerden. Ich habe geträumt, Ásta wäre zu mir gekommen. Es gibt Träume, die sollte man besser nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es bedeutet nichts Gutes, von Toten zu träumen, selbst wenn es sich um meine Ásta handelt … Sie war eine gute Frau, und es wird schwer werden, von jetzt an ohne sie weiterzuleben. Ohne seine Frau ist ein Mann nur ein halber Mensch, und was kann ein halber Mann schon ausrichten? Sie war
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