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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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hören, es übertönt fast die Kinderstimmen, die von draußen hereindringen.
    Na so was, sagt der Junge und beginnt, seine Sachen zu suchen. Jens tut das auch. Zwei halb nackte Männer auf der Suche nach ihren Kleidern. Sie finden sie am Herd in der Küche, wo Þóra sitzt, das ältere Mädchen, und sie betrachtet. Der Junge weiß und dünn, Jens behaart und massig. Ihre Sachen sind fast trocken, und das Mädchen hat eine Art Grütze mit Kräutern und Flechten gekocht, läuft aber davon, als sie es ansprechen, als hätte es Angst vor ihnen.
    Nur weil du so hässlich bist, sagt der Junge zu Jens. Sie essen die Grütze in der Baðstofa . Anschließend bleiben sie einfach sitzen und hören dem Leben draußen zu und der Windstille.
    Mensch, was habe ich einen Durst auf Kaffee, sagt Jens, und da fängt die alte Frau an zu lachen. Sie liegt auf der Seite, ihr Gesicht ist ihnen zugewandt, sie sehen, was die Zeit aus einem Menschen machen kann. Ihr zahnloser Mund steht weit offen, und drinnen sieht es finster aus.
    Sie lacht, sagt der Junge leise.
    Nein, sie weint, behauptet Jens und hat recht; sie weint, ihr gebrechlicher Körper, dieses Häufchen Elend, bebt, sie weint lautlos, aber es kommen keine Tränen, alle Quellen sind versiegt.
    Ist ja gut, Mama, sagt Bjarni, der eingetreten ist, ohne dass sie ihn bemerkt haben. Es hilft doch nichts, zu weinen, aber die Alte hört trotzdem nicht auf oder vielleicht gerade deswegen, weil es so aussichtslos ist.
    Du bekommst deinen Kaffee, sagt Bjarni laut, ich setze welchen auf. Er lässt sie mit dem Weinen allein.
    Kaffee ist das Einzige, was sie tröstet, sagt Bjarni, als er zurückkommt. Sie haben sich nicht gerührt, schauen betreten vor sich hin, gelähmt von dem monotonen, leidvollen Schluchzen.
    Kaffee ist wohl auch das Einzige, was sie noch am Leben hält, setzt Bjarni hinzu, und seine Hände hängen hilflos herab. Manchmal bin ich mir gar nicht sicher, ob man das noch Leben nennen kann. Wie soll man das begreifen, eine Frau im besten Alter stirbt, aber diese hinfällige alte Frau lebt weiter. Vielleicht hält wirklich nur der Kaffee ihr Lebenslicht noch am Brennen, aber das wird sich bald herausstellen, der Kaffee reicht höchstens noch vier, fünf Tage. Bis dahin ist aber genug da, fügt er schnell hinzu und geht in die Küche, um noch mehr von dem schwarzen Zeug zu holen.
    Sollen wir ihnen wirklich den Kaffee wegtrinken?, fragt der Junge leise.
    Etwas anderes bleibt uns nicht übrig, antwortet Jens.
    Und viel zu essen haben sie wahrscheinlich auch nicht mehr, sagt der Junge und fährt, als Jens keine Reaktion zeigt, fort: Hast du die Ränder unter ihren Augen nicht gesehen? Du weißt, was das bedeutet.
    Jens seufzt.
    Genau, sagt der Junge, Unterernährung. Man hat ja schon gehört, wie es hier in den nördlichen Trakten zugehen soll; gegen Ende des Winters haben sie kaum noch etwas anderes zu essen als eingesalzene Lummen, die Leute sterben an Skorbut, Menschen im besten Alter, manche muss man auf anderen Höfen, in anderen Gemeinden unterbringen, damit sie überhaupt wieder auf die Beine kommen, sie mit anständigem Essen aufpäppeln, damit sie aus eigener Kraft wieder nach Hause laufen können. Das hier ist das Ende der Welt, schließt der Junge, und da kommt Bjarni mit dem Kaffee.
    Sie vermeiden es lange, zu sprechen, um den Kaffee intensiver zu genießen. Bjarni seufzt leise. Es ist viele Wochen her, seit er sich zuletzt erlaubt hat, so starken Kaffee zu kochen, und das ist ganz etwas anderes, der Geschmack und die Wohltat sind sofort da, man braucht nicht auf dem Gebräu herumzuschmatzen, damit es überhaupt nach etwas schmeckt.
    Du meinst also, wir leben am Ende der Welt, sagt Bjarni dann. Er sieht keinen direkt an, aber es ist klar, an wen er sich richtet. Der Junge fühlt sein Gesicht heiß werden.
    Ich habe dich gehört, sagt Bjarni offen, als der Junge nicht antwortet. Die Alte lacht leise, sehr leise aus großer Ferne, zurückgesunken ins Land ihrer Kindheit und die grünen Wiesen des Frühlings, alle sind noch am Leben, und es gibt also keinen Grund, zu weinen. Selbst die Gebrechlichsten haben noch ihre Träume.
    Der Junge sagt: Nun ja, es lässt sich kaum bestreiten, dass das hier … ein wenig abseits von allem liegt. Hinter den Bergen, eine kleine Bucht hinter den Bergen, und dann kommt nur noch das Eismeer.
    Bjarni: Nichts gegen das Eismeer.
    Der Junge: Aber wenn man auf einem Berg steht und das Tosen der See hört, dann denkt man sofort ans Ende der Welt,

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