Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
kräftige Arme, ein schrilles Lachen, und wenn sie rot wird, wackeln ihre Ohren ein klein bisschen, das finde ich schön, aber das schreibst du natürlich nicht, ich meine, dass sie rot wird.
Nein, natürlich nicht, hatte der Junge geantwortet und die Bitte nicht abschlagen können, ebenso wenig wie die Bezahlung, die Oddur ihm versprach, so großzügig, dass der Junge einfach Ja sagen musste.
Jetzt sitzt er wieder für sich allein, hat aber Probleme, in die Übersetzung zurückzufinden. Das Gequatsche von Oddur und Lúlli dringt zu ihm herein. Er schiebt den englischen Text beiseite, will aber auch noch damit warten, den Brief für Oddur aufzusetzen; er muss erst nachdenken, Wörter zusammensuchen. Mit ruhiger Hand greift er nach Othello und beginnt sich auf die abendliche Lesung vorzubereiten, die wegen der Gewerkschaftssitzung erst später stattfinden wird. Er schlägt das Buch auf, tastet nach der Art der Worte, lauscht ihrem Atem nach, vielleicht hört sich auch Jens die Lesung an, er hat am Morgen kurz vor neun die Post zu Sigurður dem Arzt gebracht, nachdem ihm Helga Beine gemacht hatte. Er hatte einen Schlitten bekommen und die Kisten hinter sich hergezogen. Der Schnee war weich, an manchen Stellen sank er bis zur Hüfte ein, aber es war nur ein kurzer Weg, zweihundert Meter, nichts Lebensgefährliches, absolut nicht, nur hatte Jens am Vorabend deutlich zu viel getrunken, und die Kopfschmerzen machten sich unbarmherzig bemerkbar. Der Junge sitzt eine lange Zeit über dem Buch, bis auf seinen Herzschlag ist nichts zu hören. Der Schnee draußen ist weiß, aber manche Wörter haben mehr Farben als der Regenbogen.
IX
Sigurður empfängt Jens im Wohnzimmer, steht mit durchgedrücktem Kreuz kerzengerade vor dem Briefträger, der sich in vornehmen Räumlichkeiten unbehaglich fühlt. Das Wohnzimmer im Haus des Arztes ist kleiner als das bei Geirþrúður, aber das Mobiliar ist sorgfältig gewählt, schwer und dunkel und so perfekt platziert, dass es einen Aufstand gäbe, wenn auch nur ein Teil verrückt würde. Jens zwingt sich, absolut ruhig stehen zu bleiben, er hat reichlich Zeit damit zugebracht, sich draußen jede Schneeflocke abzuklopfen, die Trauer der Engel hat in einer so piekfeinen Stube nichts zu suchen. Zwei Gemälde in vergoldeten Rahmen, das eine zeigt ein majestätisches Segelschiff, das in schwerer See segelt, aber die Wellen wirken wegen der Größe und Majestät des Schiffs völlig ungefährlich; solche Schiffe bekommt man in den Fjorden hier nicht zu sehen, im Vergleich mit ihnen sind unsere Kutter bloß Badezuber. Auf dem zweiten Bild steht Jón Sigurðsson, die linke Hand leicht auf einen Tisch gestützt, und blickt Jens streng an. Warum mussten wir einen so ernsten, nahezu freudlosen Nationalhelden bekommen? Jens muss sich zusammenreißen, um nicht von einem Fuß auf den anderen zu treten, zu Boden zu blicken, einen Buckel zu machen. Unterwürfigkeit scheint in unserem Volk verwurzelt zu sein wie eine langwierige Krankheit; dann und wann legt sie sich vorübergehend, kommt aber immer wieder zum Durchbruch, am liebsten vor großem Reichtum, schweren Möbeln, starken und dreisten Machthabern. Wir sind Helden am Küchentisch, demütig in großen Sälen. Sigurður steht eine ganze Weile vor dem Postboten, das schüttere, pomadisierte Haar sorgfältig gescheitelt; das schmale, gerade Oberlippenbärtchen verleiht seinen harten Zügen etwas Ernstes; kann sein, dass er Jens allein durch seine Gegenwart und die Atmosphäre des Raumes beugen will, aber der schafft es, sich unter Kontrolle zu halten, er bleibt aufrecht, und das ist ein Sieg, denn auch wenn Sigurður keine Großmacht vom Format eines Friðrik ist, so ist er doch eine gewichtige Figur, ein Teil der Macht. Er ist Postmeister über ein großes Gebiet, sitzt oft im Gemeinderat des Ortes, ist der einzige Apotheker hier, hat mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, vor Kurzem erst einen Konkurrenten aus dem Ort gegrault, und obendrein ist er auch noch Buchhändler. Daraus bezieht er naturgemäß nur wenig Macht und Geld, denn Macht und Geld haben noch nie zum Gefolge der Literatur gehört, vielleicht ist sie genau deshalb so unkorrumpiert und manchmal die einzige Kraft des Widerstands.
Jens lässt Sigurðurs Rüffel schweigend über sich ergehen, er komme drei Tage später als planmäßig vorgesehen, eigentlich vier, denn obwohl er gestern Abend schon im Ort eingetroffen sei, liefere er die Post erst heute ab, das sei in höchstem
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