Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Maße unangebracht, das wisse Jens genauso gut wie er. Warum bist du nicht als Erstes hierhergekommen, wie es deine Pflicht gewesen wäre? Außerdem hast du nicht auf Arngerðareyri das Boot genommen, um den Fjord zu überqueren, obwohl das viel schneller gegangen wäre. Willst du mich etwa zwingen, eine Beschwerde über dich einzureichen?
Das Wetter lud nicht gerade zu Bootstouren ein, sagt Jens leise, greift dann in die Jacke und zieht die Atteste von den beiden Bauern hervor, die bezeugen, dass Jens an der Verspätung der Post keine Schuld trifft und dass, als er von der großen Hochheide herabkam, nicht die Möglichkeit bestand, in einem Boot den Fjord zu überqueren, wie es sonst üblich sei, eine häufig genutzte Möglichkeit im Übrigen, die Jens auch bei ordentlichem Wetter oft genug nicht in Anspruch nahm, er schien auf Bootsfahrten nicht sonderlich erpicht zu sein, sondern zog lieber endlos auf Saumpfaden über die Berge und um vier Fjorde, was ihn einen ganzen Tag kostete.
Kein Wetter, um das Boot zu nehmen, heißt es in dem einen Zeugnis, und beide bestätigen, dass der Landpostbote mit den Naturgewalten zu kämpfen hatte, der mächtigsten Macht schlechthin, der Winter hatte ihm aufgelauert, zwei unwirtliche Hochplateaus hatten versucht, ihm den Garaus zu machen, die Kälte wollte ihm Finger und Zehen abfressen, die Wut der Berge tobte durch ihn hindurch. Die Atteste drücken sich natürlich bedeutend bodenständiger aus, schließlich sind sie von zwei grundsoliden Bauern geschrieben, die sich streng an die Tatsachen halten, weshalb man ihnen auch Respekt zollt. Wer von der Wut der Berge und der Trauer der Engel faselt, zieht den Anschein des Schriftstellers auf sich und verspielt dadurch jedes Vertrauen. Schriftsteller sind Gaukler, Dekoration, manchmal Clowns, und dementsprechend ernst nehmen wir sie. Wahrscheinlich ist es richtig, dass die Literatur die komischen und schönen Seiten im Wesen unseres Volkes aufbewahrt, aber sieben Jahrhunderte der Not haben uns geprägt und geschliffen, und irgendwann in diesem Zeitraum haben wir den Glauben an die Macht der Literatur verloren und begonnen, sie als Tagträumerei und Schönrednerei bei festlichen Anlässen zu betrachten und uns nur noch auf Zahlen und sichtbare Tatsachen zu verlassen.
Die beiden Zeugenaussagen sind kurz und präzise. Sigurður kann sie darum schwerlich in Zweifel ziehen.
Du wartest hier, schnauzt er nur kurz angebunden und geht dann in sein Kontor, um die Post durchzusehen und mit dem Briefregister zu vergleichen. Jens hat nichts gesagt, es war ja ein Befehl, keine Bitte, und dem gehorcht man besser, um Sigurður keinen Anlass für eine Rüge zu geben. Auf seinen Postritten lässt sich Jens nur von Wenigem aufhalten, er steigt selbst bei schlechtestem Wetter und auch dann auf Berge und Hochheiden, wenn ihn die Vernunft und die Warnungen anderer zurückhalten wollen. Aber was würde aus seinem Leben, wenn er seine Arbeit verlieren sollte? Diese Ritte für die Post geben seinem Leben einen Sinn, sie füllen ihn aus, es ist eine ständig Herausforderung, wieder und wieder diese weiten Ritte zu unternehmen, viermal im Jahr sogar die gesamte Strecke bis nach Reykjavík, um dort die Post von dem Kollegen aus dem Südland zu übernehmen. Es ist allerdings wirklich nicht leicht, die Arbeit eines Landbriefträgers zu versehen, dabei haben Leute schon Zehen, Arme, Pferde und das eigene Leben verloren, und der Lohn ist so gering, dass man kaum weniger verdienen kann, manchmal reicht es kaum für die eigenen Kosten, er muss für Logis unterwegs bezahlen und ebenso für die Pferde, für Essen, Futter und die Pflege von Kleidung und Zaumzeug; aber was am Ende noch übrig bleibt, ist immerhin Geld, richtiges, hartes Bargeld, und damit werden nur die wenigsten entlohnt; die meisten von uns leben und sterben, ohne jemals Geld in der Hand gehabt zu haben. Geld verleiht eine seltene Freiheit, eine Freiheit, die auch in diesen Postritten liegt. Wer einmal in stillen Sommernächten ganz allein über die Hochheiden geritten ist, nur in Gesellschaft des Himmels und der Heidevögel, der hat nicht umsonst gelebt. Allerdings denkt Jens nicht an solche Stunden, so wundervoll sie auch sein mögen, als er reglos in Sigurðurs guter Stube steht, während der Arzt zusammen mit seiner Familie die Post durchsieht; durch die hölzerne Wand hört man undeutlich ihre Stimmen. Die große Standuhr schwingt ihr schweres Pendel, und mit jedem Pendelschlag wird Jens älter.
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