Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Er denkt nicht an die Gefahren, denen er gerade entronnen ist, nicht an den klirrenden Frost, der ihn an seinem Pferd festgeeist hat und ihn beide Füße gekostet hätte, wenn die Entfernung zum Ort größer gewesen wäre. Nein, zuerst denkt Jens an seine Schwester, wie so oft, wenn ihn die Schmutzigkeit der Menschen in Wut versetzt, er denkt an ihre Reinheit und fühlt, wie der Hass gegen Sigurður sich legt und zu Nonsens verflüchtigt, über den man den Kopf schütteln kann. Dieser Hass schwelt von Beginn an zwischen den beiden Männern, wir wissen nicht, weshalb, nur dass Sigurður Jens überheblich findet, verantwortungslos und unvorsichtig. Wahrscheinlich wartet er bloß auf eine gute Gelegenheit, um Jens anzuzeigen und ihn loszuwerden. Manche glauben, er sammle diverse Vorkommnisse für einen dicken Bericht, der Jens irgendwann den Kopf kosten könnte. Jens bringt es fertig, Sigurður in Gedanken beiseitezuschieben und vor allem an seine Schwester zu denken, an Reinheit, ungetrübtes Glück und ihr grenzenloses Vertrauen in den Bruder; dann an seinen Vater, diesen Riesen, den Zeit und Leben allmählich doch beugen, obwohl er noch den Hof mit hundert Schafen führt, während Jens mit der Post unterwegs ist, und dann verblasst auch der Vater langsam in seinen Gedanken und etwas anderes nimmt seinen Platz ein, etwas, das ihn durch und durch mit Wärme erfüllt, das Blut fließt schneller, rasend schnell sogar, er bleibt noch immer bewegungslos stehen und blickt ausdruckslos vor sich hin, als hätte er nicht einen Gedanken im Kopf, sondern würde lediglich dort stehen und darauf warten, dass die Zeit vergeht. Ein solcher Unterschied kann zwischen der Außenansicht eines Menschen und seinem Innenleben bestehen, und das sollte uns etwas sagen, es sollte uns lehren, nicht zu viel auf das Äußere zu geben; wer das tut, übersieht das Wesentliche.
Sie heißt Salvör.
Vor sechs Jahren hat er sie zum ersten Mal gesehen.
Sie ist bei dem Bauern in Stellung, der Jens das erste Attest ausgestellt hat, ein paar Worte, die bestätigen, was wir wissen müssen: dass das Leben hier am äußersten Rand der Welt dem Menschen zuweilen feindlich gesinnt ist. Salvör ist älter als er, zehn Jahre sind sie auseinander, sie hatte schon etliches durchgemacht, bevor Jens mit seinen Pferden Bleikur und Krummi zum ersten Mal auf den Hof kam. Na ja, was heißt schon etliches? Jedenfalls hatte sie jung geheiratet. Mit ihrem Mann lebte sie auf einem kleinen Stück Land, überwiegend unfruchtbare Steine und Geröll, immerhin mit ein paar guten, wenn auch feuchten Wiesenstücken für Heu. Mit Tüchtigkeit lassen sich auch die Ödstellen des Lebens in saftige Wiesen verwandeln, und ihr Mann, Kristján, war nicht nur tüchtig, er konnte auch verdammt lustig sein und kannte eine Unmenge Lieder und Balladen, das meiste ganz gefällig zusammengereimtes Zeug, leichte Unterhaltung, die viele gern hören mochten. Anfangs trug er seine Verse und Geschichten zu Hause vor und im Kreis von Freunden, seine Stimme war weich, eine Spur dunkel, sein Vortrag schlug einen in seinen Bann. Der Winter auf dem Land ist lang, düster und vergleichsweise arm an Ereignissen, und mit der Zeit stieg die Nachfrage nach Kristján, er trat auf den Nachbarhöfen auf, dann in anderen Gemeinden, um die dunkle Jahreszeit etwas aufzumuntern, er wurde dafür bezahlt, bekam hier eine Lammkeule, da etwas Korn oder Weizenmehl, das man zu Hause bestens gebrauchen konnte, und am Anfang machte es einfach nur Spaß. Salvör vermisste ihn natürlich, aber es kann auch belebend sein, jemanden zu vermissen, es unterbricht die Alltagsroutine, und Kristján war bestens aufgelegt, wenn er nach Hause kam, hatte viel zu erzählen. Die Jahre aber verändern vieles. Die Männer wollten mit ihm trinken, die Frauen warfen ihm Blicke zu, er sah gut aus, es kann ja so nett sein, einen gut aussehenden Mann zu betrachten; dunkles Haar fiel ihm in die Stirn, seinen weichen Bewegungen und seinen obsidianschwarzen Augen wohnte beträchtliche Anziehungskraft inne. Seine Touren veränderten ihn ganz allmählich, oder vielleicht entdeckte er auch nur neue Seiten an sich und am Leben, manchmal fühlte es sich so an, als würde er sich insbesondere draußen und unterwegs selbst finden können, sein wahres Ich; so sollte das Leben sein: Gemeinschaft, Lieder, Geschichten, Aufmerksamkeit und nicht das Abrackern und Schuften auf dem dürftigen Boden, der aufreibende Kampf ums Überleben, grauer Alltag. Drei
Weitere Kostenlose Bücher