Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Gesicht und trat sie, dass sie gegen die Wand flog, wo sie wie ein Sack liegen blieb. Er griff nach der Flasche, die ihm der Bauer zum Abschied geschenkt hatte, nahm einen langen Zug, erbrach sich, rollte vom Stuhl und fiel in den besinnungslosen Schlaf des Vollrauschs. Salvör lag reglos an der Wand, hörte Kristján würgen und brechen, rührte sich nicht, bis er eingeschlafen war. Dann stand sie auf und breitete eine Decke über ihn. Lange betrachtete sie sein schlafendes Gesicht, es war dunkel, mitgenommen, aber selbst im Schlaf noch schön. Schließlich ging sie zu den Kindern hinein, beide lagen wach in ihren Betten, ein sechsjähriges Mädchen mit großen Augen und ein zweijähriger Junge, der hustete und hustete. Sie strich ihre Decken zurecht, wickelte den Jungen fest ein, wisperte dem Mädchen etwas zu und ging dann, um nach dem Pferd zu suchen. Sie brauchte lange. Sie rief leise, pfiff, aber nichts, schließlich fand sie es ein Stück weit vom Hof entfernt, tot, Kristján hatte es abgestochen, tote Pferde hören selten auf Pfiffe. Aber es lag überall viel Schnee, und darum war es für sie nicht übermäßig beschwerlich, die Kinder auf einem primitiven Schlitten mitzunehmen. Dunkle Winternacht mit Sternen, drei Stunden Wanderung bis zum nächsten Hof, das kleine Mädchen hielt seinen hustenden Bruder fest im Arm, sie drehten sich kein einziges Mal um, nicht einmal, um die Flammen zu betrachten. Das Feuer verursachte einen unglaublich hellen Schein, es erleuchtete den Himmel über dem Hof, dabei waren die Gebäude doch so klein und eng. Das geschah vor zwölf oder dreizehn Jahren. Seitdem arbeitet Salvör als Magd auf dem Hof, den sie nach dem nächtlichen Marsch erreichte, tüchtig und schweigsam. Die Frau des Hauses weiß ihre Arbeitskraft zu schätzen und vertraut ihr, so manche andere Frau aber hasst sie noch immer und trauert dem Mann nach, der von Hof zu Hof zog mit seinen dunklen Haaren, den obsidianglänzenden Augen und einer Stimme, die ihre Knie weich werden ließ. Das jüngere Kind, der kleine Junge, lebte nur noch kurz, drei Stunden auf einem Schlitten in eisigkalter Nacht waren zu viel für ihn, obwohl Salvör ihn so warm eingepackt hatte, wie sie konnte. Er starb nur ein paar Wochen später. Da hatte man das Mädchen schon auf einem anderen Hof untergebracht, eine Tagesreise entfernt, und Salvör blieb allein zurück. Sie trafen sich vorerst zweimal im Jahr und klammerten sich so fest aneinander, als hätten sie nichts anderes auf der Welt, was vermutlich der Wahrheit nahe kam.
Salvör bekommt selten Briefe oder Sendungen, wer sollte ihr auch schon Post schicken? Die einzigen Briefe, die sie je erhalten hat, kamen von ihrer Tochter, die man vor vier Jahren zwangsweise in eine weiter entfernte Gegend geschickt hat, als gäbe sich das Leben alle Mühe, Salvörs Einsamkeit noch zu steigern. Es interessierte sie gar nicht, als Jens es sich zur Gewohnheit machte, auf dem Hof, auf dem sie in Stellung war, zu übernachten und mit seinem üppigen, blonden Schopf in der Wohnstube zu sitzen und Neuigkeiten zu erzählen. Aber wie heißt diese Macht, gegen die keiner ankommt und die jeden ein Leben lang unglücklich macht, der versucht, sich ihr zu widersetzen?
Erst waren es nur Blicke.
Sie begegneten sich, leichtes Zucken im Herzen, Stoff zum Grübeln zwischen den Postritten, in ihrem Fall Anlass zu Besorgnis. Die meisten Männer sind nämlich Viecher, die lediglich ihre Kraft demonstrieren wollen, wenn sie sich an Frauen heranmachen. Aber heiße Schwüre, feste Absichten, all das ribbelt sich auf wie ein Pullover, wenn jene Macht zu ziehen beginnt. Auf dem Hof gab es, wie auf den meisten Bauernhöfen, so gut wie kein Privatleben. Alle schliefen gemeinsam in der seit altersher so genannten Badestube, Baðstofa , nur auf den besten Höfen besaßen die Bauersleute einen abgetrennten Alkoven, einen kleinen Verschlag, der kaum den Namen Schlafkammer verdiente. Die ersten Schritte unternahm man draußen unter dem freien Himmel, der alle menschlichen Geheimnisse bewahrt. Es war im Sommer, und sie war draußen, um die Wäsche zu waschen. Ein Sommerabend mit Vogelpiepen und ununterbrochener Helle sowie einer roten Mitternachtssonne, die alles miteinander verschmolz. Ich hasse euch Kerle, sagte sie und küsste ihn. Männer sind Viecher, sagte sie und begann zu weinen, silbrig glänzende Tränen liefen ihr lautlos die Wangen hinab, und da nahm Jens sie in seine mächtigen, schweren Arme, strich ihr über das
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