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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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rötlich braune Haar, streichelte und tröstete sie genauso, wie er es mit seinem Vater tat, wenn er, alt und gebrechlich, unter den Enttäuschungen des Lebens zusammenzuklappen drohte.
    An dieser Schulter ist schon öfter geheult worden, schniefte Salvör.
    Ja, sagte Jens.
    Kann ich dir dann vertrauen?
    Ich habe noch keinen Menschen im Stich gelassen.
    Warum hast du mich so angesehen?
    Du bist schön, antwortete er. Es war die einzige Antwort, die ihm einfiel, denn man denkt doch nicht über so etwas nach, man guckt bloß, die Augen haben noch nie Worte nötig gehabt.
    Du lügst!
    Nein, du bist schön. Unterwegs auf meinen Postritten denke ich eigentlich nur an dich.
    Willst du mich nicht bloß rannehmen, gleich hier am Bachufer, und hinterher damit angeben?
    Jens sah sie an und wusste erst gar nicht, was sie meinte. Rannehmen, sprach er ihr nach, dann erst ging ihm die Bedeutung auf, und er wurde schlagartig unsagbar traurig, als würde die Traurigkeit selbst sein Herz füllen, er bekam einen Kloß im Hals, konnte nichts mehr sagen und schaute bloß weg, dachte, es wäre alles vorbei.
    Sie nahm seinen großen Kopf in beide Hände, musterte ihn, küsste ihn auf beide Augen. Wenn du es dann immer noch möchtest und dich traust, darfst du dich im September zu mir raufschleichen.
    Wieso sollte ich mich nicht trauen?
    Du weißt, dass ich meinen Mann umgebracht habe. Viele wollten und wollen mich dafür im Zuchthaus sehen, du wirst dir keine Freunde machen, wenn du mit mir schläfst.
    Wenn ich zwischen dir und der Welt wählen muss, wähle ich dich, sagte Jens, die Mitternachtssonne und ihre Augen machten ihn zum Dichter. Zwei Monate später, im September, schlug sie die Decke zurück, damit er zu ihr schlüpfen konnte. Das war vor fast zwei Jahren, und jetzt steht er kerzengerade und ohne eine Miene zu verziehen im Wohnzimmer von Sigurður dem Arzt, wartet, hört auf den schweren Schlag der Zeit in dem Raum und denkt an Salvör. Sie begannen miteinander zu flüstern, die Lippen dicht am Ohr, sie wisperten, manchmal einfach nur schönes dummes Zeug, die Worte schwebten davon wie bunte Luftballons, manchmal erzählte er ihr von seiner Schwester, von einer Bemerkung, die sie einmal gemacht hatte, so kindlich einfältig und klarsichtig, dass er und sein Vater plötzlich alles in einem anderen Licht gesehen hatten. Papa ist mittlerweile so alt geworden, flüsterte er und etwas in ihm zerbrach, er hatte versucht, sich zusammenzureißen, aber als sie seinen Kopf nahm und auf ihre Schulter legte, da strömten die Tränen nur so, ganz leise, diese durchsichtigen Fischlein der Trauer. Anschließend hatte sie von sich erzählt, von ihrer freudlosen Vergangenheit, von ihrer Tochter, ganze Abschnitte aus ihren Briefen, die sie auswendig konnte, hatte sie ihm zitiert. Vier Jahre habe ich sie nicht gesehen, und das tut so weh, dass ich es vorziehen würde, mich jeden Tag mit einem Messer abstechen zu lassen. Aber sie hatte ihm nicht sagen wollen, wo das Mädchen lebte, nicht bevor ich dir hundert Prozent vertraue, hatte Salvör gesagt. Und stattdessen von dem Jungen erzählt, der gestorben war. Er hatte erst spät zu sprechen und zu laufen begonnen, denn er war oft krank gewesen, aber er hatte eine helle und reine Stimme gehabt, doch dann war er gestorben, und das war ihre Schuld. Sie hielten sich fest umschlungen, zwei kleine Inseln im wirbelnden Strom der Zeit. Sie waren nackt, und es geschah sehr langsam. So langsam, dass es sich schön anfühlte. Salvör fühlte sein Glied anschwellen, langsam und beinah entschuldigend, ganz langsam wichen auch Trauer und Verzweiflung, sie küsste seine salzigen Augen und er streichelte ihren Körper, der alt und so grau geworden war, als wäre er fast schon tot.
    In Sigurðurs Zimmer bewegt Jens unwillkürlich leicht die rechte Schulter, da hat Salvör hineingebissen, damit man sie in der Stille der Wohn- und Schlafstube nicht hörte, in der von Schnarchen und Traumgemurmel durchwebten Stille. Jens hatte überrascht die Zauberkraft seiner Finger entdeckt. Sie hatten dicht nebeneinandergelegen und darauf gewartet, dass das Dunkel der Nacht die anderen endlich in Tiefschlaf versetzte, aber es ist natürlich vollkommen unmöglich, lebendig zu sein und einfach nur so nebeneinanderzuliegen; die Hände mussten etwas unternehmen, sie setzten sich in Bewegung, alle vier, glitten über die beiden Körper, und eigentlich aus Versehen war er mit Daumen und Zeigefinger zwischen ihre Beine geraten und tiefer

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