Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Meeresgrund, die Fische schwimmen um mich herum.
Der Schnee fällt so dicht, schreibt der Junge, dass er Himmel und Erde verbindet. Der Schnee, der jetzt auf die Erde fällt, war vor wenigen Minuten noch dem Himmel ganz nah. Wie lange mag es dauern, bis man aus dem Himmelreich hier unten ankommt? Eine Minute vielleicht? Für manche reicht nicht mal ein Leben von siebzig Jahren, um von hier unten dort oben anzukommen. Vielleicht gibt es das Himmelreich bloß in Träumen.
Der Junge legt den Stift weg, ein wenig bang wegen des letzten Satzes. Er schließt die Augen und sieht seine Schwester vor sich, wie sie kreischte, wenn er mit ihr spielte, und für einige Augenblicke ist es, als sei sie noch am Leben. Ihre Augen voller Vertrauen und Lebensfreude, viel mehr findet auch keinen Raum in den Augen kleiner Kinder, da ist noch kein Platz für Schatten, aber dann hat der Tod ihre Augen ausgelöscht, sie sind weg und kommen nie wieder. Ist der Himmel bloß ein Traum? Und wenn das richtig ist, wo ist seine Schwester dann jetzt? Lilja hieß sie. Er muss sich schwer zusammenreißen, um nicht Lilja quer über die ganze Seite zu schreiben. Lilja, nach dem Gedicht, das der Mönch Eysteinn vor vielen hundert Jahren auf den Himmel geschrieben hat, vor vielen hunderttausend Leben, das Gedicht der Gedichte. Darum war Lilja der einzige Name, der für seine Eltern infrage kam, die kleine Schwester war ihr absolutes Lieblingsgedicht, mit einem so reinen Gesicht und hellblauen Augen und einem so fröhlichen Wesen, dass selbst alte Leute einen Umweg in Kauf nahmen, um die Kleine einmal zu streicheln. Es war, wie die Unschuld selbst zu berühren, ehe die Sünde in die Welt kam. »Lilja ist so frech«, heißt es in einem der Briefe, die der Junge, ganz abgegriffen vom Lesen, oben in seinem Zimmer aufbewahrt, »dass sie sich manchmal in ein reizendes kleines Teufelchen verwandelt.«
Sind das Himmelreich und das Leben nach dem Tod vielleicht genau wie die Götter – existieren sie nur, wenn man an sie glaubt?
Dann ist der Junge die einzige Hoffnung für Lilja und seine Eltern.
Wenn er nicht glaubt, verblassen sie und werden zu nichts, Liljas blaue Augen, ihr Eifer und ihr ewiger Wissensdurst laufen ins Leere, werden zu Leere, die alles Leben in sich einsaugt, alle Erinnerungen. Wenn er vorzeitig sterben sollte, ehe er Spuren oder sichtbare Zeichen von sich hinterlassen kann, wenn er durchs Leben gehen sollte, ohne ihm seinen Stempel aufzuprägen, dann verrät er sie, ihre Träume und Hoffnungen. So einfach ist das, und da liegt doch ein Sinn für das Leben, ein Inhalt: all das zu erleben, was Lilja vorenthalten blieb, lernen, was ihr entgangen ist.
»Sie stellt so viele Fragen, dass manche Leute davonlaufen, wenn sie auftaucht. Das kann nicht jeder aushalten, wenn ein Kind Fragen stellt, die uns zwingen, über das eigene Leben Rechenschaft abzulegen. Warum gibt es dich? Wieso bist du so? Warum bist du wütend? Warum guckst du meine Mama so an? Wie weit ist es von hier zum lieben Gott? Was ist in meinem Aa? Warum stinkst du so? Wohin gehen die Träume, wenn ich aufwache? So etwas fragt deine Schwester alle hier auf dem Hof, tagein, tagaus.«
Als er noch ein Kind war, hat der Junge einige Details in diesen Briefen gar nicht mitbekommen, vor allem in den letzten. Erst jetzt geht ihm so einiges auf, als habe die Mutter ihr Ende geahnt und die Briefe im Hinblick darauf geschrieben. Es waren Briefe an ihn für eine Zukunft, die sie und Lilja nicht mehr erleben würden. Drängende Worte, aber von einer so leisen schmerzlichen Trauer durchzogen, dass sie kaum zu spüren war. Diese Worte waren Boote, die ihr eigenes Leben, das Leben Liljas und das seines Vaters von Vergessen und endgültigem Tod wegsteuerten. Und nun liegt es an ihm, dass das Boot nicht untergeht und seine Ladung ungehindert im dunklen Meer versinkt. An ihm und an niemand anderem. Nicht an Egill, seinem Bruder, von dem er seit Jahren nichts gesehen und gehört hat. Irgendetwas sagt ihm das, vielleicht hat die Mutter es in den Briefen angedeutet, zwischen den Zeilen – es lässt sich so vieles zwischen den Zeilen sagen –, dass Egill nichts vor dem Vergessen retten würde.
Aber was kann er tun?
Er schaut auf seine Hände. Sie sind leer, die Arme eines Menschen sind bloß morsche Stöckchen unter den schweren Tritten der Zeit, die das Leben zermalmen und ins Vergessen treten.
Meine Schwester heißt Lilja, schreibt er gleich hinter den Satz über das Himmelreich. »Liebe
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