Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
in sie hinein und hatte dort etwas ertastet, das sie bei der Berührung so scharf den Atem einziehen ließ, dass er die nächsten zwei Wochen kaum an etwas anderes denken konnte. Ich wusste gar nicht, dass es diesen Punkt gibt, flüsterte sie heiser nach dem ersten Mal und küsste den Abdruck ihrer Zähne auf seiner Schulter. Welchen Punkt? Der, von dem ab ich gekommen bin, als würde ich weiter fliegen als bis zum Horizont! Jens guckte sie verdutzt an, und sie kicherte; das hatte sie bestimmt seit fünfzehn Jahren nicht mehr getan. Sie nahm sein Glied. Komm, flüsterte sie und öffnete die Beine, ich flieg mit dir dahin.
Eine schreckliche Wirklichkeit hat sich der Mensch zugerichtet. In dem Attest von Salvörs Arbeitgeber über die hinderlichen Umstände auf Jens’ Weg mit der Post wird sie nämlich nicht mit einem Wort erwähnt. Da steht bloß, dass schlechtes Wetter und unpassierbare Wege die Reise des Landbriefträgers Jens Guðjónsson aufgehalten hätten und dass die Hochheide, zu der er hinaufmusste, für einen Wanderer nahezu für unüberwindlich gehalten wurde, geschweige denn für Pferde mit Packkisten. Kein Wort über Salvör. Nichts über ihr Leben, über Trauer, Verzweiflung, kein Wort über die Sehnsucht oder das, was sich zwischen ihr und Jens ereignete, und dabei sollten wir nie über etwas anderes als genau darüber schreiben: über Trauer, Verlust, Sehnsucht, Schutzlosigkeit und das, was zuweilen zwischen zwei Menschen entsteht, unsichtbar, aber stärker als Weltmächte, stärker als Religionen und so schön wie der Himmel, über Tränen, die durchsichtige Fische sind, über Worte, die wir Gott zuwispern oder jemandem, der uns sehr wichtig ist, über den Augenblick, wenn eine Frau ein Glied in sich einführt und daraufhin der Horizont auseinanderfliegt. Wir sollten nie über etwas anderes schreiben. Sämtliche Atteste, Entschuldigungen und Mitteilungen der Welt sollten von dem Folgenden handeln:
– Ich komme aus Trauer heute nicht zur Arbeit.
– Ich habe gestern diese Augen gesehen und komme deswegen nicht zur Arbeit.
– Ich kann heute unmöglich kommen, weil mein Mann nackt ist und so schön.
– Ich komme heute nicht, weil mich das Leben verraten hat.
– Ich komme heute nicht zur Besprechung, weil hier draußen vor dem Fenster eine Frau ein Sonnenbad nimmt und die Sonne ihre Haut so schön leuchten lässt.
Wir trauen uns nie, so etwas zu schreiben, wir beschreiben nie die Elektrizität zwischen zwei Menschen, sondern reden stattdessen über Preisentwicklungen, wir beschreiben das Äußere, nicht das Pochen des Blutes, suchen nicht nach der Wahrheit, nach Gedichtzeilen, die uns umhauen, sondern verstecken unsere Ohnmacht und unsere Resignation im Herunterbeten von Tatsachen: Türkische Armee Mobilmachung, gestern zwei Grad Frost, Männer leben länger als Pferde.
Hm, macht Sigurður, wieder ins Zimmer getreten. Er hält die Atteste in der Hand, überfliegt sie vor Jens’ Augen, obwohl er sie längst gründlich gelesen hat, er will ihn nervös machen, indem er sie noch einmal mit aller Gründlichkeit und Skepsis durchliest. Jens ist äußerlich die Ruhe selbst, obwohl das Blut mit nahezu polizeiwidriger Geschwindigkeit durch seine Blutbahnen schießt, er registriert den Arzt fast gar nicht, so versunken ist er in seine Gedanken an Salvör. Sigurður faltet die Bescheinigungen zusammen und steckt sie in die Jackentasche. Wenn du dich nicht bewährst, werde ich nicht zögern, dafür zu sorgen, dass man dich entlässt, da kannst du sicher sein, sagt er unverblümt und kalt. Jens’ Blutfluss stockt mit einem Schlag, dann schießt der Hass auf, kohlrabenschwarz wie ein Gruß aus der Hölle. Sigurður setzt sich in einen Sessel, der wie für ihn gemacht zu sein scheint, er hat eine ziemlich dicke Zigarre in der Hand, lässt sich Zeit, sie umständlich anzuzünden, verschwindet dann für eine Weile in einer dicken Rauchwolke. Jens nutzt die Gelegenheit, ein paarmal tief die Luft einzuziehen und den Duft zu genießen, solange Sigurður es nicht sehen kann.
Ich muss dich um eine kleine Gefälligkeit bitten, eröffnet Sigurður, als er wieder aus der dicken Qualmwolke auftaucht, und es scheint ihm kein bisschen unangenehm zu sein, Jens um einen Gefallen zu bitten. Jens verlagert das Gewicht vom linken auf den rechten Fuß und schaut den Arzt misstrauisch an, der macht einen neuen Zug, saugt neuen Genuss ein und bittet Jens dann, mit einer Ladung Extrapost zur sogenannten Winterküste überzusetzen
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