Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
und weiter um den Dumbsfjörður zu ziehen.
Du musst mit drei bis fünf Tagen rechnen. Guðmundur liegt mit einer Grippe zu Bett und kann das Haus nicht verlassen. Darauf schweigt Sigurður, pafft, tut, als sei Jens überhaupt nicht vorhanden und wartet doch auf seine Antwort. Jens versucht, das verführerische Zigarrenaroma auszublenden und klar zu denken. Für und Wider, die Qual der Wahl. Am liebsten möchte er Nein sagen und sich gleich morgen auf den Heimweg machen. Sein Vater wird sich Sorgen machen, wenn er tagelang nichts von ihm hört, und Salvör wird auch unruhig werden, außerdem möchte er dem alten Mann nicht zu viel Arbeit überlassen, bei dem bisschen Kraft, das ihm noch geblieben ist. Die Zeit zehrt schnell an ihm. Auf der anderen Seite würde er sich ein paar Kronen extra verdienen, und bis er zurückkäme, hätten sich die Pferde gut erholt. Nichts nimmt Pferde so mit wie Überanstrengung, sie zehrt sie aus und macht aus einem Rassepferd einen abgehalfterten Klepper. Und was soll Jens ohne seine Pferde anfangen? Was würde dann aus seinen Postritten? Er verlagert das Schwergewicht wieder aufs linke Bein. Warum mag Sigurður ihn um diese Tour bitten? Steckt da nicht etwas dahinter? Vielleicht weiß Sigurður, dass Jens sich in der Gegend nicht besonders gut auskennt. Er ist zwar schon einmal dort gewesen, aber das war im Sommer, und was heißt das schon? Das Land hier ist im Sommer ein ganz anderes Land als im Winter; sie könnten auf verschiedenen Kontinenten liegen. Nach den andauernden Schneefällen und dem ewigen Wind ist die Strecke sicher verteufelt schwer und nur von erfahrenen Männern zu begehen, und von denen gibt es nicht mehr viele, seitdem etliche auf den Kuttern angeheuert haben. Das stimmt schon, und daher liegt es nahe, dass Sigurður Jens fragt. Und trotzdem ist etwas faul an der Sache. Spekuliert Sigurður vielleicht darauf, dass Jens, weil er ortsunkundig ist, die Post zu spät zustellt und dadurch dem Arzt einen Vorwand liefert? Wer diese Tour übernimmt, muss mit dem Boot viermal einen offenen Fjord überqueren, darunter zweimal den breiten und düsteren Dumbsfjörður, er muss vier ausgesetzte Hochflächen überwinden, eine von ihnen eigentlich schon ein ausgewachsener Berg, der bei schlechtem Wetter die meiste Zeit kosten wird. Wenn er es aber schafft, wenn er die Post zügig und pünktlich abliefert, obwohl er die Gegend nicht gut kennt, dann verbessert er seine Position gegenüber dem Arzt, für den das einen Rückschlag bedeuten würde, eine herbe Enttäuschung, denkt Jens, und es juckt ihn so, dass er Ja sagt, ohne wirklich eine abgewogene Entscheidung gefällt zu haben.
Gut, abgemacht, sagt Sigurður rasch, die Taschen warten draußen. Er stopft sich die Zigarre in den Mund und ignoriert Jens nun völlig. Jens zieht den Rauch ein und verlässt grußlos den Raum. Draußen wartet ein junges Dienstmädchen mit drei schweren Taschen voller Briefe, Zeitungen und den Parlamentsnachrichten, wobei die Briefe vermutlich den geringsten Teil ausmachen, denn wer schreibt schon Briefe an den Winter, der dort im Norden haust? Jens lädt sich die Taschen auf, scheint ihr Gewicht kaum zu spüren. Das Dienstmädchen bringt ihn zur Tür. Sie hat dunkles Haar und graue Augen, die Jens nachblicken, die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen zur Kenntnis nehmen, die breiten Schultern mustern, wirklich jammerschade, dass ein so prachtvoller Mann eine solche Riesengurke im Gesicht haben muss, denkt sie und sperrt eine weiße Welt und einen davonstapfenden Postboten aus.
X
Es schneit. Schneeflocken oder auch Schneekörner füllen den Himmel und lagern sich auf die Welt. Der Wind weht schwach, daher bleiben die Schneehaufen an Ort und Stelle, das Meer ist an der Oberfläche ruhig und schluckt und schluckt den Schnee. Nach dem Sturm der letzten Tage herrscht allerdings noch Unruhe in der Tiefe, Unruhe, die den Kuttern und offenen Booten zu schaffen macht. Das Meer hat Unterströmungen in sich wie die Menschen und braucht lange, um nach Aufregungen wieder zur Ruhe zu kommen. Nur selten ist es möglich, nach der Oberfläche zu urteilen, weder bei Mensch noch Meer, und so geschieht es leicht, dass man sich täuscht und mit seinem Leben oder Glück bezahlen muss: Ich habe dich geheiratet, weil du an der Oberfläche so ruhig und schön warst, und jetzt bin ich unglücklich. Ich bin zur See gegangen, weil ihr Spiegel so ruhig dalag, und jetzt bin ich tot, weine unter anderen Ertrunkenen am
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