Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Andrea« steht ganz oben auf dem Blatt. Er möchte Andrea dazu ermuntern, Pétur zu verlassen, noch einmal von vorn anzufangen, ein neues Leben, das ist so einfach, die Schlussfolgerung liegt so offensichtlich auf der Hand, er schämt sich fast, sie mit der Nase daraufzustoßen, als würde er ihren eigenen Verstand dadurch herabsetzen, dass er schreibt, was offensichtlich ist. Geh fort von ihm! Erst in dem Moment, als die Wörter auf dem Papier stehen, wird ihm klar, was sie enthalten. Das geschriebene Wort verfügt über eine größere Tiefe als das gesprochene, als würde das Papier eine unbekannte Dimension öffnen. Wohin sollte Andrea denn gehen? Was für ein Leben sollte sie führen? Er blickt sich um, als suche er nach einer Antwort, sieht aber bloß Tische und leere Stühle, Schnee, der draußen Himmel und Erde verbindet, und irgendwo da draußen in diesem Schneefall liegt das Meer. Es ist zugleich aufregend und beunruhigend, in so einem Wetter hinauszurudern. Die Welt scheint dann mit dem Wind verschwunden zu sein, es gibt nichts mehr außer dem dichten Schnee, dem Boot und der See um es herum. Der Schnee dämpft alles, als brächte er die Stille mit sich; zwischen zwei Schneeflocken herrscht Stille. Aber wie kann man sich orientieren, wie ist es möglich, die Stellen zu finden, an denen in der Tiefe der Fisch steht, wie findet man zurück zum Land? Das hat er nie verstanden, und immer hat er heimlich gefürchtet, sie würden langsam abtreiben, und wenn es dann einmal aufklarte, wären alle Berge verschwunden und da wäre nur noch das offene Meer, steigende Wellen, dunkelnder Himmel und das Ende der Welt.
Meine Schwester hieß Lilja.
Seine Aufgabe also ist es, dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen wird, dass ihr kurzes Leben einen Sinn erhält, dabei hat er noch nie jemandem von ihr erzählen können, außer Bárður, und Bárður ist inzwischen tot und kann sich vielleicht an nichts mehr erinnern. Was bringt es auch, einen Namen laut auszusprechen, wenn dann nichts mehr nachkommt? Manche reden und reden, treten ihr Leben in Worten breit, und wir bekommen den Eindruck, ihr Leben sei irgendwie größer, bedeutender, aber genau das sind vielleicht die Lebensläufe, die sich in nichts auflösen, sobald einmal der Redefluss versiegt.
Irgendwo habe ich einen Bruder, schreibt er, der heißt Egill, wie der Dichter. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir Kinder waren. Er war immer so unsicher mit allem, vor allem mit sich selbst. Ich sollte ihn ausfindig machen.
Warum schreibt er das Andrea, sie hat doch kein Interesse an seinen kleinmütigen Befürchtungen. Was vergeudet er das Papier an sich selbst? Andrea braucht Hilfe und nicht sein Gewinsel. Ich sollte mich schlicht bereit erklären, sie zu heiraten. Ja, genau. Und sogar mit ihr nach Amerika zu gehen. Schade nur, dass sie so alt ist, schießt es ihm wie ein bösartiger Blitz durch den Kopf. Sicher schon über vierzig! Er greift sich ins Haar und zieht fest daran. Es ist nicht besonders nett, hier zu sitzen und Andrea in Gedanken als alte Frau zu bezeichnen und sie nicht ganz selbstverständlich zu heiraten. Jetzt kann er den Brief nicht fortsetzen, nicht solange er so denkt, das färbt auf die Formulierungen ab. Er guckt den Stift an und hofft auf Unterstützung, auf einen Ausweg, am besten wäre es sicher, den Brief für Oddur aufzusetzen. Aber nein, das geht nicht, dafür muss er in guter Stimmung sein, fröhlich wie Oddur. Die Sonne muss durchs Fenster scheinen, ungetrübte Lebensfreude, aber wie zaubert man so etwas aus dem Hut, geht das überhaupt? Wo soll er dann die Schatten lassen, wer will sie so lange aufbewahren? Nein, jetzt schreibt er den Brief an Andrea, zum Kuckuck, sie braucht ihn, sie steht allein in der Welt, aber wie konnte sie nur darauf kommen, Pétur zu heiraten, was hat sie an diesem verdammten Klotz von einem Kerl gefunden, der salzig ist wie die See, düster vor Humorlosigkeit, der ihr sicher nie etwas Schönes sagt, der überhaupt nie etwas Schönes sagt, sein Herz ist kein Muskel, sondern ein eingesalzener Trockenfisch. Und ob sie sich von ihm trennen soll!
Andrea, schreibt er, aber dann hört er, dass aus dem hinteren Teil des Hauses jemand kommt. Es ist Kolbeinn mit seinem tastenden, aber trotzigen Auftreten, gestützt auf seinen Stock. Die beiden sind unzertrennlich, der Tote stützt den Lebenden. Und wenn das nun auch für uns Übrige gelten würde? Der alte Kapitän zieht prüfend die Luft ein und dreht die Nase in
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