Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Richtung des Jungen, als würde er ihn riechen.
Was machst du?, fragt er mit brüchiger Stimme.
Nichts, sagt der Junge.
Was?, fragt Kolbeinn zurück, als hätte er dieses Allerweltswort noch nie gehört.
Ich schreibe einen Brief.
Gibt es einen Grund dazu?
Keine Ahnung?
Was?
Ich glaube, es ist wichtig.
Für wen? Dich?
Nein, für denjenigen, der ihn bekommt.
Na ja, dann, wenigstens das, spuckt der Alte aus, tastet sich mit dem Stock weiter und lässt sich am Fenster nieder.
Damit ich besser rausgucken kann, brummt er, zieht sich dann aber in sein Schweigen zurück, gibt keine Antwort, obwohl der Junge ihn fragt, ob er vielleicht Kaffee möchte. Er hockt am Fenster und schaut hinaus in die Dunkelheit, die nie von ihm weicht, nicht in diesem Leben, höchstens in trügerischen Träumen. Völlig reglos sitzt er da, ebenso tot wie sein Stock, der sich an ihn lehnt. Der Körper des alten Skippers ist fest wie Stein. Er ist gut einen Kopf kleiner als der Junge. Seine Schultern wirken hochgezogen, sein Kopf ist tiefer in den Leib gesunken. Mit zunehmendem Alter schrumpfen die Menschen zusammen, das macht die Zeit, ihre lastende Schwere drückt einen nieder. Wenn man lange genug leben würde, ein paar hundert Jahre, würde einen die Zeit einfach ausradieren, zusammendrücken, bis nichts mehr übrig bliebe.
Der Junge blickt wieder auf den Brief. Wörter scheinen das Einzige zu sein, über das die Zeit nicht so leicht hinweggehen kann. Sie fährt durch das Leben und verwandelt es in Tod, sie geht durch ein Haus, und es zerfällt zu Staub. Manche Worte aber scheinen der Zerstörungskraft der Zeit zu trotzen; das ist doch bemerkenswert. Sie verwittern natürlich, werden ein wenig matter, aber sie bleiben stehen und bergen in sich längst vergangenes Leben, bewahren verklungenen Herzschlag auf, verschwundene Kinderstimmen, längst verwehte Küsse. Manche Wörter sind Muscheln in der Zeit, in ihnen steckt vielleicht eine Erinnerung an dich.
Andrea, schreibt er, die Zeit kann so grausam sein, sie bringt uns alles, nur um es uns wieder zu nehmen. Wir verpassen zu viel. Ist es, weil uns der Mut fehlt? Mama hat gesagt, der Mut, Zweifel zuzulassen, sei die wichtigste Kraft des Menschen. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber es ist, als würde ich diesen Satz von ihr immer besser nachvollziehen können. Ich zweifle an allem. Allerdings möchte ich meinen Zweifel nicht missen; obwohl er sich manchmal wie ein gemeiner Kerl in mir anfühlt. Der Weg zu einem sicheren und empfindungslos tauben Leben besteht darin, nur ja nicht an seiner Umgebung zu zweifeln – nur wer zweifelt, lebt. Andrea, verlass Pétur, denn ich glaube sein Herz ist kein Muskel, sondern ein Salzfisch …
Hier seid ihr beide, sagt Geirþrúður, die eingetreten ist, ohne dass der Junge es gemerkt hat, so konzentriert war er, fast verschmolzen mit Papier und Wörtern, dieser unglaublichen Mischung aus allem und nichts.
Hier seid ihr beide.
Ja, sagt der Junge und lässt den Stift nicht sinken.
Was wollte Friðrik denn hier?, würgt Kolbeinn hervor, als würde er sich vor dem Namen ekeln. Dabei dreht er Geirþrúður sein wettergegerbtes und von der Zeit zerfurchtes Gesicht zu.
Er will, dass ich heirate, sagt sie und grinst, ihr sommersprossiges Gesicht wird jünger dabei, dann erlischt das Lächeln und sie sieht wieder älter aus. Sie geht zur Theke, gießt sich ein Glas Whisky ein, kippt es in einem Zug und schließt dabei die Augen, dann beugt sie sich vor. Sie trägt ein rotes Kleid, so rot, dass es an Blut denken lässt. Es ist nicht tief ausgeschnitten, aber der Junge kann dennoch die Kluft zwischen ihren Brüsten sehen. Er spürt, wie es ihm heiß wird im Unterleib, er schaut betroffen weg.
Macht es eigentlich Spaß, ein Mann zu sein?, fragt Geirþrúður und guckt den Jungen direkt an, als hätte sie ihn bei einem Vergehen ertappt.
Spaß, sagt Kolbeinn, was heißt schon Spaß? Es war mir seinerzeit ein Vergnügen, Frauen anzugucken, aber jetzt bin ich blind. Sie haben sowieso nur selten zurückgeguckt, also ist es auch egal.
Es gilt als ganz selbstverständlich, dass Männer Frauen angucken, meint Geirþrúður, aber wir sollen am besten nicht zurückgucken. Kann mir mal jemand sagen, was wir mit unseren Augen tun sollen? Friðriks Besuch hätte ich vorhersehen können. Im Winter hat mir Séra Þorvaldur einen langen Brief geschrieben, in dem stand, er würde ebenso als Seelsorger wie als Freund an mich denken, als Witwe seines Freundes hätte er
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