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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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zaghaft an die Tür. Schnee schwebt vom Himmel, landet weich auf der Erde und schmilzt auf dem Meeresspiegel. Die Tür geht auf, ein Gesicht erscheint im Spalt, runzlig und behaart wie eine eingeschrumpelte Feige und auch nicht viel größer.
    Mildiríður?, fragt er zögernd, und sie nickt mit dem Kopf. Ich muss unbedingt einen Brief zu den Hütten der Brüder Pétur und Guðmundur schicken. Helga hat mir gesagt …
    Kommst du von Helga, dieser treuen Haut! Leicht verschleierte Augen betrachten den Jungen, die Stimme ist vom Alter dünn und brüchig, ein zahnloses Lächeln hellt das verrunzelte Feigengesicht auf.
    Das Häuschen ist so winzig, dass es kaum die beiden Leben fasst, die darin vor sich hin dämmern. Der Junge zieht unwillkürlich den Kopf ein; er schaut zu dem Mann hinüber, der auf einer Pritsche an der Wand liegt, daneben eine offene Herdstelle aus Feldsteinen, zwei Hocker, mehr geht in den Raum nicht hinein. Das Tageslicht sickert durch drei kleine Luken, die anstelle von Glas mit Fruchtblasen bespannt sind, und das Abzugsloch im Dach haben sie mit Lappen verstopft, um Schnee und Kälte auszusperren. So kann auch die verbrauchte Luft nicht entweichen und hängt als zäher Mief im Raum. Der Junge versucht, durch den Mund zu atmen, und will so schnell wie möglich wieder nach draußen. Simmi schläft, schnarchend sägt er die dicke Luft in Scheiben, sein Gesicht ist grob und aufgedunsen, ein schiefer Mund, eine Knollennase und schräge Augen verleihen ihm einen bedrohlichen Ausdruck. Er hat eine schwarze Strickmütze über den Kopf gezogen, die verschlissene Decke ist heruntergerutscht, man sieht kurze Beine und einen behaarten Bauch.
    Simmi, lieber Junge, flüstert Mildiríður mit krummem Rücken über ihn gebeugt, hier ist ein junger Mann mit einem Brief gekommen, den du austragen sollst. Sie stupst ihren Sohn sanft an, der brummt etwas und wehrt sie ab. Mildiríður wirft dem Jungen einen Blick zu und will sich aufrichten, aber die Zeit hat sie so unnachgiebig krumm gemacht. Und wer bringt schon die Riesenkräfte auf, die es braucht, sich unter ihr wieder aufzurichten?
    Er wacht bald auf, sagt sie und lächelt wieder. Möchtest du einen Kaffee, mein lieber Junge? Sie wartet gar keine Antwort ab, sondern macht sich gleich am Herdfeuer zu schaffen. Der Junge behält vorsichtig den Kopf eingezogen, es fehlen höchstens noch fünf, sechs Zentimeter bis zur rußschmierigen Decke. Simmi murrt und schlägt um sich, aber es ist auch nicht immer leicht, seine Träume zu verlassen. Der Junge hat ihn von Weitem schon mehrmals gesehen, fleißig und unermüdlich, wie er ist, schickt man ihn mit kleinen Aufträgen zwischen den Hütten hin und her, und er trottet von einer zur anderen wie der Abkömmling eines Seehunds und eines Strandgespensts, bei jedem Wetter die Mütze bis auf die Augen gezogen.
    Der Kaffee kocht und mischt seinen Duft mit dem Mief. Der Junge greift in den Beutel. Das hier ist von Helga, sagt er und holt die Brote heraus. Oh, oh … oh, macht die Alte, streichelt innig die Brote, dankt und segnet Helga mindestens sieben Mal. Simmi reißt die Augen auf, schnuppert und schwingt die Beine von der Pritsche, erblickt den Jungen und tritt ganz dicht an ihn heran, mustert sein Gesicht so, als müsse er es mit seinen schrägen, schwachen Augen abtasten, ein Geruch von Urin und Ungewaschensein steigt dem Jungen in die Nase. Der Kaffee ist nicht gut. Simmi braucht lange zum Essen, eines der Brote verputzt er vollständig, tippt noch lange jeden einzelnen Krümel auf, schnaufend und grunzend vor Wohlbehagen, dann lässt er laut einen fahren, rülpst und seine Augen strahlen, der Junge aber ist inzwischen so ungeduldig geworden, dass er kaum noch stillstehen kann. Endlich ist Simmi so weit und bekommt den Brief ausgehändigt. Mit seinen plumpen, fettigen Fingern hält er ihn fest, dreht ihn um und entziffert die Anschrift. Ich weiß, wer Andrea ist, sagt er eifrig, lacht unangenehm laut und fängt an, seine Brust zu befingern. Mildiríður sieht lächelnd zu, und der Junge verflucht Helga im Stillen, dass sie ihn hierhergeschickt hat. Der Idiot läuft mit dem Brief womöglich zur falschen Hütte, verwechselt Andrea mit der Unglückskrähe Anna – Anna und Andrea! Solche Schwachköpfe können vermutlich nicht einmal zwischen derart unterschiedlichen Frauen unterscheiden.
    Andrea ist sehr gut, sagt Simmi, aber ich habe Angst vor Pétur.
    Der Junge bleibt lange bei der alten Frau sitzen. Er blickt in ihre

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