Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Augen, zwei kleine, abgenutzte Perlen, und kommt nicht los. Er trinkt Kaffee, während sie den Oberkörper vor und zurück wiegt und dazu summt und trällert.
Kann ich etwas für dich tun? Soll ich den Schnee vor der Haustür wegschaufeln? Sie lächelt, sieht zu ihm auf, kneift die Augen zusammen, um ihn deutlicher zu sehen.
Lebt ihr nur zu zweit hier?, fragt der Junge, und da beginnt sie von ihrem Mann zu erzählen, der in der Bucht ertrunken ist, hier draußen, gleich vor dem Haus, vor zwanzig Jahren war das. Sie waren zu zweit in dem kleinen Ruderboot, schon auf dem Rückweg zum Land, völlige Windstille. Sie stand mit Simmi am Ufer und wartete. Sie sahen zu, wie die beiden näher kamen. Ihr Mann blickte auf und winkte, da wurde es auf einmal rasend schnell dunkel, Wind sprang auf, wurde stürmisch, Mildiríður bekam Staub in die Augen, konnte nichts mehr erkennen; als sie wieder etwas sehen konnte, trieb das Boot kieloben und die Männer schlugen im Wasser um sich. Simmi hüpfte johlend am Ufer auf und ab: Papa komisch! Papa komisch! Sie watete so weit hinaus, wie sie sich traute, es war nicht weit genug, aber sie konnten sich in die Augen sehen. Ich habe mich von ihm verabschieden können, sagt sie zu dem Jungen und streichelt ihm über den Handrücken, als sei er derjenige, der Trost brauchte. Dann waren die beiden Männer noch einmal aufgetaucht. Die Luft in ihren wasserdichten Hosen aus Ölzeug gab ihnen Auftrieb. Ihre Beine ragten aus dem Wasser, die Köpfe blieben unten, so trieben sie stundenlang wie ein Paar skurriler Wasservögel an der Oberfläche. Simmi lachte sich so kaputt, dass er sich hinsetzen musste.
Es ist schwer, Hass für jemanden zu empfinden, den man liebt, sagt sie zu dem Jungen, es ist sicher das Schwerste überhaupt; aber dann findet man sich ab und vergibt allen. Nur sich selbst nicht.
Als der Junge sich endlich auf den Weg macht, weht draußen ein kräftiger Wind. Er reißt sich von diesen Augen los, von ihrem Lächeln, ihrem Schmerz, den ewigen Segenswünschen und kämpft sich über den Platz vor der Kirche, kommt ein wenig vom Weg ab, muss ein paar hohe Verwehungen umgehen, und einmal fegt ihn der Sturm einem großen Mann in die Arme, Jens, wie sich herausstellt. Ich wusste gar nicht, dass man so junge Welpen bei solchem Wetter vor die Tür lässt, brummt der Briefträger, schiebt den Jungen beiseite und ist verschwunden.
XI
Irgendwo in diesem Wetter ist Simmi unterwegs, kämpft sich zu den Fischerhütten durch, den Brief unter die Jacke gesteckt, mit Sätzen, die geschrieben wurden, um ein Leben zu ändern – so sollten auch wir immer schreiben –, und das Fett auf seiner Kleidung verschmiert den Umschlag, er hat Flecken, als Andrea ihn entgegennimmt.
Was ist das für ein Brief?, fragt Pétur misstrauisch und ahnt nichts Gutes.
Ein Brief eben, sagt sie schnippisch, und da bekommt er es mit der Angst, am liebsten würde er ihr den Brief wegnehmen, aber das wagt er nicht. Stattdessen blickt er Einar an, der zu spät versucht, ein Grinsen zu unterdrücken. Bei irgendjemandem löst das Unglück doch immer Schadenfreude aus.
Sie wird ihn lesen, denkt der Junge, aber was dann? Schwärmen seine Worte in dieses Unwetter aus und kommen mit Andrea zurück? Trägt er dann nicht automatisch Verantwortung für sie und muss vielleicht etwas von sich opfern, um ihr zu helfen? Was ist Verantwortung? Anderen so weit zu helfen, dass man sich selbst dabei schadet? Aber wenn du keinen Schritt auf die Menschen zu machst, bekommt dein Leben einen hohlen Klang. Nur für Menschen ohne Moral ist das Leben leicht. Die kommen gut überall durch und wohnen in großen Häusern.
Zwischen den Bergen wird es Abend. Der Junge hilft beim Aufräumen nach der Sitzung der Arbeitergewerkschaft, die erfolgreich verlaufen ist. Bloß zwei, die gekotzt haben, einer, der umfiel, einer, der mit gebrochener Nase nach Hause gegangen ist. Solche Treffen sind wichtig, hat der Gewerkschaftssekretär zu Helga gesagt. Die schweißen uns zusammen, und darauf kommt es an, dass wir zusammenstehen, sonst trampeln die Bosse auf uns herum und treten uns in den Dreck.
So, wie das für mich aussieht, erledigt ihr das schon bestens selbst, hatte Helga zurückgegeben.
Unsinn, meinte der Funktionär, ohne Solidarität wären wir wehrlos, aber Friðrik hat Angst vor uns, und zwar nicht wenig. Euer Kolbeinn ist übrigens mit Ási abgezogen, wahrscheinlich ins Hotel. Ich habe gehört, dass der alte Knabe ganz gern mal einen
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