Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
verheiratet und leben im Ausland, genau deswegen lasse ich mich mit ihnen ein.
Dann musst du einen Schlappschwanz heiraten, sagt Kolbeinn und massiert seinen Stock, einen, den du leicht im Griff hast. Dürfte nicht schwer sein, so einen hier aufzutreiben.
Lauf mal für mich zu Jóhann, sagt Geirþrúður zu dem Jungen, und er steht – glücklich, etwas zu tun zu bekommen und sich verdrücken zu können – so schnell auf, dass der Stuhl umfällt.
Willst du ihn heiraten?, fragt er wie ein Idiot, anstatt die Klappe zu halten und sich zu verkrümeln, solange er die Gelegenheit dazu hat. Sie lacht auf, gießt sich das dritte Glas ein.
Er ist mein Finanzverwalter, das reicht.
Und außerdem ein saftloser Knochen, knurrt Kolbeinn.
Darüber wissen wir nichts, sagt Geirþrúður. Das Schlimmste, was ich mir antun könnte, wäre natürlich, einen Mann zu heiraten, der mich wirklich interessiert, dann wäre ich vollkommen wehrlos. Vielleicht sollte ich Gísli heiraten, der schleppt genügend Unglück mit sich herum.
Kolbeinn: Gísli! Der traut sich doch nicht einmal, er selbst zu sein. Friðrik dirigiert ihn mit dem kleinen Finger.
Was hast du da?, fragt Geirþrúður den Jungen und blickt auf die dicht beschriebenen Briefbögen auf dem Tisch. Das ist doch nicht die Übersetzung, so weit kannst du noch gar nicht gekommen sein.
Welche Übersetzung? Wann bekomme ich sie vorgelesen?, erkundigt sich Kolbeinn, und sein Kopf wackelt vor Ungeduld.
Nein, sagt der Junge, das ist ein Brief.
Ein Brief, wiederholt Geirþrúður, die an den Tisch getreten ist. Darf ich ihn lesen? Und nimmt ihn schon, bevor er Nein sagen kann. Er ist so nah, dass er ihren Duft riechen kann. So etwas wie in diesem Brief hat er noch nie geschrieben, und jetzt liest es jemand.
Ich bin auch noch da, sagt Kolbeinn nach wenigen Minuten der Stille und stößt zweimal den Stock auf den Boden. Wird hier für mich etwa nicht mehr gelesen? Verfluchte Dunkelheit, murrt er, als er keine Antwort erhält, hebt den Stock und haut damit um sich, als wollte er so das Dunkel zerteilen, das ihn umgibt.
War Andrea nicht deine Haushälterin bei den Fischern?, fragt Geirþrúður und legt den Brief weg.
Der Junge nickt.
Und es geht ihr nicht gut?
Nein.
Mir geht es auch nicht gut, sagt Kolbeinn.
Nur wer zweifelt, lebt, liest Geirþrúður. Das ist gut. Schreib den Brief zu Ende und komm dann in die Küche. Jóhann kann solange warten, und wir finden jemanden, dem wir den Brief zu den Fischerhütten mitgeben können. Kolbeinn, sagt sie, und der Alte erhebt sich.
Der Junge hört, wie sie sich entfernen.
Nur wer zweifelt, lebt, und was sonst noch? Was will er denn von dieser Frau?, hört er Kolbeinn fragen. Fließt denn seine ganze Manneskraft bloß in Worte?
Er beugt sich über das Papier und schreibt:
Der Weg zu einem gesicherten und trostlosen Leben liegt darin, nie an seiner Umgebung zu zweifeln. Nur wer zweifelt, lebt. Andrea, verlass Pétur! Bleib, und du wirst es dir nie verzeihen. Geh fort, und du wirst vielleicht das Leben wiederfinden. Bleib, und stirb langsam weiter.
Er denkt nicht nach, es klopft in seiner Brust. Der Stift jagt über das Blatt. Wörter können Gewehrkugeln sein, aber auch Lebensretter. Der Junge beugt sich über den Brief und schickt sie los.
Dann schüttelt er die müde gewordene Hand und liest den Brief noch einmal durch, sein Gesicht ist weich und gleichzeitig fest und entschlossen in tiefer Konzentration, die Zeit hat es noch nicht mit ihren Messern markiert. Der Junge überliest, was er soeben geschrieben hat, und die Worte sind größer als er selbst.
Wenige Minuten später ist er mit dem Brief in der Tasche unterwegs, eine Ein-Kronen-Münze und zwei duftende Brote im Beutel.
Geh zu Mildiríður, hat Helga ihm aufgetragen, nachdem sie und Geirþrúður den Brief gelesen haben. Sie schickt für dich ihren Sohn Simmi mit dem Brief. Aber vergiss nicht, bei Jóhann vorbeizugehen und ihm auszurichten, dass er kommen soll.
Der Schneefall hat seit dem Morgen nachgelassen, er sieht die Welt durch die einzelnen Flocken und das bleigraue Meer, das sich hebt und senkt, das Riesentier, das mit halb geschlossenen Augen beobachtet, wie der Junge durch die Verwehungen zu einem kleinen Haus an der Bucht unterhalb der Kirche geht. Das Häuschen ist eingesackt und kauert vorgebeugt da, als wäre ein Troll vorbeigekommen und hätte ihm aus Überdruss einen Tritt versetzt. Der Junge steht in einem hohen Schneehaufen und klopft ein paarmal
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