Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
heben soll.
Was hat er damit gemeint?, fragte der Junge, nachdem der Sekretär gegangen war, selbst ein bisschen unsicher auf den Beinen, aber so zufrieden mit sich selbst, dass er Helga tatsächlich hatte umarmen und betatschen wollen.
Kolbeinn trinkt sehr viel, sagte Helga, und das freut den Hurensohn. Wir müssen Kolbeinn nachher holen.
Es stürmt. Der Wind wirbelt die Verwehungen auf, schüttelt die Welt durch, es dröhnt dumpf in den Bergen. Helga und der Junge brauchen fast eine halbe Stunde, um zum Hotel zu kommen, sonst ein Weg von fünf Minuten. Das Wetter ändert hier alles, Schneesturm und Kälte pressen uns zusammen und machen die Entfernung zwischen den Menschen größer. Außer den beiden ist niemand unterwegs, was hat der Mensch bei solchem Wetter auch draußen zu suchen außer den Tod? Die Kutter haben unter den Bergwänden Schutz gesucht, wo man bei dieser Windrichtung Lee finden kann, und die offenen Boote, die noch draußen sind, versuchen sich zum Land zurückzukämpfen, das allerdings nicht zu sehen ist, es ist verschwunden, die Welt ist ein formloses weißes Tosen, womöglich Dutzende von Männern kämpfen gerade dagegen an, versuchen, das Brandungsrauschen zu erkennen, das Land verheißt, aber auch das letzte und gefährlichste Hindernis. Schutzlos in offenen Ruderbooten kämpfen sie gegen eine übermächtige Gewalt, kämpfen für das eigene Überleben und für die Angehörigen, die an Land auf sie warten, für die Frauen, die sich nicht trauen zu schlafen, weil sie Angst davor haben, im Traum könnten ihnen ihre Männer völlig durchnässt erscheinen: Ja, ja, jetzt ist es so gekommen. Bete für meine Seele, denn ich möchte aus der See und in den Himmel; ich bin jetzt tot, du brauchst nie mehr mit mir zu schimpfen, du bist frei, herzlichen Glückwunsch! Meine Liebste, mein Herz, ich gäbe mein Leben für ein paar trockene Socken, aber ich habe kein Leben mehr zu geben.
Irgendwo in demselben Unwetter gibt es andere Menschen, die müssen hinaus, um ihre ewig hungrigen Schafe zu füttern, die blöken und meckern; ihre Träume drehen sich um saftiges Gras und ab und zu einen stattlichen Bock.
Der Junge kennt das alles, die grasgrünen Träume, den Weg bei jedem Wetter hinaus zum Stall, während der Sturm versucht, einem den Kopf abzureißen, sein Leben aufs Spiel zu setzen für ein paar Halme Heu, er hat sich in Todesangst ans Ruder oder an die Bordwand geklammert und auf das Brausen der Brandung gelauscht, dieses tiefe Donnern, das Leben und Tod zugleich bedeuten kann, Verheißung und letztes Hindernis zugleich, dieses dumpfe Brüllen, das die Geräusche des Sturms durchschneidet: Kommt her zu mir, und ich werde euer Boot zerschmettern und euch ersäufen wie kleine Mäuschen, oder ich lasse euch durch und ihr dürft das Leben behalten, wenn ihr die kurze Frist, die euch vergönnt ist, denn noch immer mit so einem großen Wort benennen wollt. Aber wer durch die Brandung kommt, ist erst einmal gerettet. Auf den wartet festes Land und ein Alltag mit freundlichen Worten, trockene Socken, heiße Umarmungen, helle Kinderstimmen, Treuebrüche und Banalitäten.
Der Junge ringt nach Atem und versucht, sich gegen den Wind auf den Beinen zu halten, der zwischen den Häusern in heftigen Böen einfällt, er schaut meist zu Boden, sieht nichts und stößt plötzlich gegen Helga. Sie haben das Hotel erreicht und treten ein, es knarzt unter ihren Schuhen, draußen tobt der Sturm weiter, schreit nach ihnen, aber Helga schließt die Tür.
Mehr bedurfte es nicht, um ihn loszuwerden.
Diesen Sturm, der so ungeheuer groß ist, dass er die Welt füllt und das Leben bedroht, und dann reicht eine einzige Tür, eine dünne Holzplatte, um ihn auszusperren. Sollte uns das etwas über den Menschen und seine dunklen Stürme sagen? Helga und der Junge haben sich mit groben Bürsten, die neben dem Eingang hängen, schon weitgehend den Schnee abgeklopft, als eine große Frau erscheint und sie mit leiser Stimme begrüßt, sie ist dürr, hat eine große, gebogene Nase und kreuzt die Hände über der Schürze, als wollte sie die Aufmerksamkeit auf sie lenken, hallo, seht mal, was ich für grobe, hässliche Hände habe. Der Junge muss sofort an eine langbeinige Schnake denken.
N’Abend Hulda, sagt Helga und hängt die Bürste zurück an ihren Platz, wir haben gehört, dass unser Kolbeinn hier sein soll. Stimmt das?
Hulda lächelt, lässt gelbliche Zähne dabei sehen, wirft dem Jungen einen schnellen Blick zu und schlägt
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