Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
ist die Einsamkeit und Traurigkeit Huldas, der dunkle Stein, den sie in ihrem Inneren mit sich herumträgt und möglichst vor ihnen verborgen hält, aber manchmal wachen sie nachts auf und hören sie in der Dunkelheit weinen. Das liebe Kind geht ja auch niemals aus, sagen die alten Weiber im Ort und haben vielleicht sogar einmal recht. Auf den ersten Blick ist das Mädchen eine ziemlich missratene Gestalt, mager, ohne Hüften, flache Brüste, langer Hals, diese Pferdezähne und grotesken Hände, tüchtige Hände eigentlich, denn sie lenkt sich durch Arbeit ab und hat Freude daran, an langen und dunklen Wintertagen mit ihrem Vater Schach zu spielen, der jetzt vor Helga und dem Jungen steht und sich mit Neugier, aber auch Anteilnahme erkundigt, wer denn der junge Mann sei, und dabei beugt er sich vor, um den Jungen genauer zu betrachten.
Das ist unser Junge, von Geirþrúður und mir, sagt Helga, wir wollen ihm ein bisschen Erziehung und Bildung zukommen lassen, für den Fisch ist er nämlich zu verträumt.
Etwas lernen, sich bilden, das gefällt mir, sagt Teitur und forscht weiter im Gesicht des Jungen, wobei er die Augen zusammenkneift, wie es Kurzsichtige häufig tun. Im Fisch arbeiten kann fast jeder oder auf See zur Hand gehen, von solchen Leuten haben wir genug; aber die andere Sorte ist selten. Wir könnten dir von Hulda Englisch beibringen lassen, das heißt, wenn ihr möchtet. Sie könnte ein bisschen Gesellschaft gebrauchen. Es tut mir übrigens sehr leid, was mit deinem Freund passiert ist. Das war eine große Tragödie.
Durch dieses fremde Wort, Tragödie, begreift der Junge nicht sofort, was der Satz bedeutet, aber dann geht ihm auf, dass der Hotelbesitzer die Geschichte von Bárður und dem Anorak kennen muss, und die von der einen Gedichtzeile, die zwischen Leben und Tod stand. Vielleicht hat er sogar von der langen Wanderung mit dem Gedicht auf dem Rücken gehört. Die Geschichte hat sich im Ort herumgesprochen, der Junge hat schon gemerkt, wie die Leute gucken und sich Blicke zuwerfen, wenn er zum Einkaufen in den Laden geht oder sonst etwas für das Haus besorgen soll, er bekommt langsam das Gefühl, sich in eine historische Gestalt zu verwandeln.
Wo bist du denn jetzt schon wieder?, fragt Helga, zieht ihn leicht am Arm und folgt dann Teitur, der den langen Gang entlanggeht. Der Junge folgt ihnen. Der Gang ist nur schwach erleuchtet, wird aber am Ende heller. Teitur biegt nach links in einen offenen Saal mit ein paar Tischen und schweren Sesseln, in denen drei Männer um einen großen Tisch sitzen. Der Junge blickt nach rechts und bleibt abrupt stehen, als er durch eine hohe, doppelte Glastür die nackten Schultern und das helle Profil von Ragnheiður erblickt, ihre hohen Wangenknochen wie ein vom Wind glatt gefegter Gletscher.
Er hat sie nicht mehr gesehen, seit sie ihm einen nassen und glänzenden Bonbon in den Mund geschoben hat.
Sie hält eine Gabel in der Hand.
Ihr dunkelbraunes Haar trägt sie hochgesteckt, aber eine Strähne ringelt sich lockig über ihre Wange – eine einzelne, dunkle Locke hebt sich von ihrem hellen, wunderbar glatten Teint ab. Er guckt und guckt, und langsam hört die Welt auf, sich zu drehen, bis sie zum Stehen kommt. Unbewegt schwebt sie im schwarzen Weltraum, und alles andere bleibt auch stehen. Der Wind wird zu stehender Luft, die Schneewirbel sinken zur Erde und werden zu ruhendem Schnee, über ihm der schwarze Himmel mit blinkenden Sternen, ebenso alt wie die Zeit.
Er hatte ja keine Ahnung, dass man die Erdrotation durch das Betrachten einer einzelnen Haarlocke anhalten konnte, die sich über eine helle Wange ringelt.
Er hatte ja keine Ahnung, dass diese eine Strähne ihn den Anbeginn der Zeit fühlen lassen konnte.
Er hatte ja keine Ahnung, dass Schultern so schmal sein konnten und so weiß wie Mondenschein.
Sie sieht nicht zu ihm her, sie weiß nichts von seiner Anwesenheit, aber eine Frau am Kopfende des Tisches, vielleicht ihre Mutter, mustert ihn kalt und abschätzig, und als er sieht, wie sich die kleinen Muskeln um ihre Mundwinkel zu bewegen beginnen, beeilt er sich, noch ganz benommen und durcheinander, Helga einzuholen, er kommt erst auf einem Stuhl an ihrer Seite wieder richtig zu sich. Sie sitzen mit Kolbeinn und zwei Männern an einem Tisch. Wie lange sitze ich hier schon, wundert sich der Junge im Stillen und legt die Hände auf den Tisch, zieht sie aber sofort wieder zurück, als er dort einen einzelnen, todbleichen Finger in einem
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