Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
besser. Bárður und der Junge hatten alles gelesen, was Gísli im Þjóðviljinn veröffentlichte, vereinzelte Artikel über soziale und Kulturfragen, zwei auch über Literatur, die Bárður ausgeschnitten und die sie beide anschließend sorgfältig gelesen hatten. Aus ihnen kennt der Junge fremde und geheimnisvolle Namen wie Baudelaire und Goethe. Letzterer stammte aus Deutschland und hat einen berühmten Roman über eine tragische Liebe geschrieben, der damit endet, dass sich der Held erschießt. So tödlich ist die Liebe, hatte Gísli geschrieben, damals noch endlos weit von dem Jungen entfernt, aber jetzt steht nur noch ein Tisch zwischen ihnen, näher kann man der Gelehrsamkeit wohl kaum kommen. Gísli beugt sich vor, und in seiner Innentasche wird ein blau eingebundenes Buch sichtbar; der Schulleiter verlässt niemals das Haus, ohne gegen die Langeweile der Welt mindestens ein Buch einzustecken. Soll mir Bárðurs Tod am Ende Glück bringen, fragt sich der Junge, erschrickt darüber und blickt seitwärts auf Teitur, der sich an der Theke abstützt und ganz kurz die Augen geschlossen hält.
Zurzeit ist im Hotel nicht viel los, aber es ist noch nicht lange her, seit die Matrosen von den Kuttern die meisten Zimmer belegt haben, einlogiert auf Kosten der Reeder und Handelsniederlassungen, die die Eigner der Schiffe sind. Etliche der Seeleute kamen von weit her, manche übers Meer, andere mussten mit ihrer gesamten Kleidung und Verpflegung, an die dreißig Kilo, tagelang laufen, alles auf dem Rücken oder, wo die Schneeverhältnisse es erlaubten, auf einem Schlitten, bergauf, bergab und wieder bergauf, über Hochplateaus und hinab ins nächste Tal, hundert Seeleute auf dem Weg zu ihren Schiffen und Booten, erfahrene Seebären, die Salzwasser in den Adern hatten, und neben ihnen junge Landlubber, dreizehn Jahre alt und noch grün hinter den Ohren, heute noch behütete Kinder in den Wohnstuben, am nächsten Tag schon das raue Leben in den Fischerhütten, das offene Eismeer, und sie mit aller Kraft bemüht, das Kind in sich und ihr jugendlich unbeschwertes Gemüt zu unterdrücken, denn etwas anderes trauen sie sich nicht, sie werden vorzeitig erwachsen. Binnen weniger Tage verlieren sie die Schönheit der Kindheit. Nur die erfahrenen Matrosen bilden die Besatzungen der Kutter, von denen der Ort etwa dreißig unterhält. Dreißig Kutter, das heißt an die dreihundert Seeleute, viele von ihnen kommen von auswärts, und das bedeutet einiges Treiben, solange man die Männer, meist alle zur gleichen Zeit, hier am Hals hat. Teitur ist froh, dass diese hektische Zeit hinter ihm liegt. Natürlich bringt sie einen guten Zuverdienst, aber auch etliche durchwachte Nächte, Lärm und Theater, unruhige, laute Tage. Viele Männer auf einem Haufen, fern von zu Hause, sie vergessen, was sie gelernt haben, die Gruppenzwänge tun ihnen auch nicht gerade gut, der eigentlich anständige Charakter tritt zurück, sie werden zu raubeinigen Rüpeln, und zeitweilig war es nicht ganz ungefährlich, Hulda abends allein durchs Hotel gehen zu lassen, manche machten sich hartnäckig oder gar rabiat an sie heran, einmal musste Teitur einen Seemann von ihr herunterreißen, der sich sternhagelvoll und notgeil schon die Hose heruntergezogen hatte und die schreckensbleiche Hulda gegen die Wand gepresst hielt, während er sein steifes und pralles Glied an ihr rieb, dieses Organ, das schön sein kann, manchmal aber einer obszönen Botschaft aus der Hölle ähnlicher sieht. Was wird nur einmal aus Hulda? Sie ist allen Männern gegenüber so schüchtern, dass es nicht zum Aushalten ist, und wie es scheint, nehmen nur völlig betrunkene Seeleute sie überhaupt wahr. Soll ich denn nie Großvater werden, denkt Teitur, und ganz schnell wird alles grau und traurig. Mit der flachen Hand streicht er nachdenklich über die Tischplatte, öffnet die Augen und begegnet dem Blick des Jungen. Aus dem Speisesaal dringt lautes Gelächter, von der Glastür gedämpfte Stimmen.
Jetzt haben sie viel Spaß drüben bei meinem großen Bruder, bemerkt Gísli bitter und zückt ein Kartenspiel. Wer Karten spielt braucht nicht über unangenehme Dinge zu reden und kann sich eine Weile vor dem Leben drücken. Der Junge sieht nur zu und setzt das Glas noch mal an, er beginnt sich an den scharfen Geschmack zu gewöhnen, aber das Glas ist so bauchig, dass er den Kopf weit zurücklegen muss, und da sieht er Ragnheiður in einem blauen Kleid, halb vom Türrahmen verdeckt und ihm Zeichen
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