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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Glasbehältnis liegen sieht.
    Finger bilden meist eine Fünfergruppe, manchmal sind sie zu zehnt, wenn sich zwei Hände umfassen; der Finger auf dem Tisch ist aber ohne Zweifel allein und fern von seinen Brüdern. Teitur kommt mit zwei bauchigen Gläsern, die kaum zur Hälfte mit einer gelben, trägen Flüssigkeit gefüllt sind, und stellt sie vor Helga und dem Jungen hin.
    Du kennst unseren Uhrmacher schon, Ási, sagt Helga und neigt den Kopf in Richtung des schlanken, gut aussehenden Mannes, der ihnen zur Linken gegenübersitzt. Und das hier ist nun unser Rektor persönlich, Gísli Jónsson, ein bekannter Mann hier zwischen den Bergen, fährt sie fort und meint den Herrn, der dem Jungen direkt gegenübersitzt. Der Schulleiter ist sehr groß und breit, sein massiges und rotfleckiges Gesicht wird von keinem Bart eingerahmt und wirkt vielleicht daher ein wenig verletzlich. Gísli grüßt mit einem leichten Kopfnicken, greift dann nach dem Finger und lässt ihn in der Jackentasche verschwinden.
    Ich muss sagen, ich finde es fast widernatürlich, mit dem Finger eines Fremden in der Jackentasche herumzuspazieren, bemerkt Ási mit leicht unstetem Blick vom Alkohol, noch dazu dem eines elenden Ausländers.
    Die Seele eines Menschen ist unergründlich, antwortet Gísli. Hast du noch nie einen Finger gesehen?, fragt er den Jungen, der den Blick kaum von der Jackentasche wenden kann.
    Doch, aber nur in Begleitung der Hand und der übrigen Finger, antwortet er leise, als wäre er weit weg, und da lacht der Rektor auf. Er streckt seine großen Hände vor und spreizt alle zehn Finger. Du hast recht, sagt er, die Finger sind immer in Begleitung. Er dreht die Hände wie staunend um, richtet den Blick wieder auf den Jungen, beugt sich dann vor, als müsse er ihn genauer ansehen: Ist das nicht …, fragt er, kommt aber nicht weiter, weil Helga ihn unterbricht:
    Ja, das ist er.
    Bemerkenswert, murmelt Gísli, sehr bemerkenswert, außerordentlich bemerkenswert, überaus interessant. Ja. Und wirklich … ganz anders. Er fährt sich schnell mit dem Zeigefinger übers Kinn. Ist dir eigentlich bekannt, mein Junge, fährt er fort, dass es einen französischen Dichter gibt, oder vielmehr gab – natürlich ist er längst tot wie alle bedeutenden Menschen –, der uns mit enormem Nachdruck und all seiner Autorität auftrug, verrückt und ewig betrunken zu sein, von Alkohol, von Tugenden, von Dichtung; erst dann würden wir leben, nur dann hätten wir gelebt. Nach dieser Regel erlaube ich mir hin und wieder zu leben. Hin und wieder, und es ist mir vollkommen gleichgültig, was andere davon halten mögen, denn ich bin ein freier Mann und tue und lasse, was ich will, und jetzt möchte ich auf dich und deinen Freund anstoßen, sein Andenken wird immer und ewig hell erstrahlen. Gísli erhebt sich mit seinem Cognac-Schwenker, vorsichtig, denn er muss erst das Gleichgewicht finden auf diesem Planeten, der viel zu rasch durchs Weltall taumelt, aber er findet es, hebt sein Glas und leert es in einem Zug, einem ordentlichen Zug, es scheint ihn nicht im Mindesten zu irritieren, dass die übrigen Anwesenden nicht aufgestanden sind und nicht in seinen Toast einstimmten.
    Der Junge lauscht seinem pochenden Herzschlag, nippt vorsichtig an dem Getränk, und der Alkohol, der ihm gleich ins Blut geht, gleicht einem beruhigenden Murmeln.
    Verrät man die Toten dadurch, dass man weiterlebt?
    Er verliert seinen Freund, er sieht zu, wie Bárður sich zu Tode friert. Der Einzige, der ihn in diesem Leben gehalten hat, in dieser beschissenen Welt. Der Einzige, der wirklich gut gewesen ist. Anschließend geht er über die Berge, um ein Buch zurückzubringen und selbst zu sterben. Stattdessen wird er von zwei Frauen aufgenommen, tritt in eine neue Welt ein und sitzt jetzt an einem Tisch mit einem hochgebildeten Mann von Welt, dem Rektor persönlich, einem Mann der Literatur. Hätte Bárður überlebt, dann säße er, der Junge, noch immer in der Fischerhütte, hätte vielleicht einen Sommer mit Arbeit in Leós Laden vor sich, dann wieder Herbst und Fischerhütte, ewig die harte körperliche Arbeit im Freien bei Nässe und Kälte, müde Gedanken und Rektor Gísli in unerreichbarer Ferne. Die einzigen Menschen mit Schulbildung, die ihm bis jetzt begegnet sind, waren Pastoren, die sich vor allem mit Schafzucht befassten und ängstlich auf die Entrichtung der Kirchensteuer achteten. Gebückt standen sie auf ihren Kanzeln, und ihre Worte machten das Leben keinen Deut

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