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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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gebend, heimlich, aber voller Ungeduld. Der Junge erhebt sich zögernd, die anderen scheinen nicht auf ihn zu achten. Er geht zu ihr.
    Ich dachte schon, du würdest mich nie bemerken, flüstert sie, und zieht ihn mit sich in eine Ecke, wo sie niemand sieht. Ein blaues, ein himmelblaues Kleid trägt sie, einer der Götter hat ein Stück vom Himmel abgerissen und es ihr umgelegt, der Himmel schmiegt sich dicht um ihren Oberkörper, um von der Taille abwärts etwas weiter zu fallen. Sie drängt ihn in die Ecke und kommt ihm dort so nah, dass er ihre Brüste spürt, sie pressen sich gegen ihn, vielleicht völlig überraschend, vielleicht aber auch gar nicht, und hart sind sie, vermutlich auch ziemlich groß, aber er ist sich nicht ganz sicher, er weiß so wenig von Brüsten, es wäre unheimlich schön, sie noch einmal zu fühlen. Sie trägt das Haar hochgesteckt, er blickt auf ihren weichen Hals, auf die nackten Schultern, es muss glücklich machen, solche Schultern zu besitzen.
    Wir haben nicht viel Zeit, sagt sie leise, hat den Jungen so in die Ecke gedrängt, dass er nicht an ihr vorbeikommt, aber das will er auch gar nicht. Sie warten nämlich auf mich, ich habe gesagt, ich müsste aufs Klo. Um zu scheißen, setzt sie noch dazu und schaut ihn herausfordend an. Was machst du denn hier mit Helga? Ich dachte, ihr würdet nirgends hingehen?
    Ich bin bloß …, er hört kaum, was er sagt, weil es so rauscht in seinem Blut und sein Herz so klopft. Ich habe Helga bloß begleitet, also, wir haben … wir haben Kolbeinn gesucht, sagt er dann schließlich, als er sieht, wie sich Ungeduld auf Ragnheiðurs Gesicht breitmacht.
    Das weiß ich doch, sagt sie, und es fehlt nur noch, dass sie mit dem Fuß aufstampft. Was kann er nur sagen, um ihr einen Gefallen zu tun, welche Worte können diese Frau beruhigen, dieses Mädchen, das Augen aus den Bergen hat?
    Warum glotzt du meine Schultern so an?
    Die bergfarbenen Augen funkeln den Jungen an, obwohl im Moment gerade nicht so schrecklich viel Härte von ihnen ausgeht, und ihre Lippen sind auch nicht geschlossen, sie sind rot, sie sind voll, sie glänzen feucht, und diese Augen kommen direkt aus den Bergen.
    Hinter den Bergen ist es ganz hell, sagt er.
    Ich fahre bald nach Kopenhagen, sagt sie und hält den Blick vor sich auf den Boden geheftet. Lange Wimpern hat sie, zwei Fächer, die sich über ihre Augen senken. Die beiden nächsten Winter soll ich bei Tryggvi und seiner Frau in Kopenhagen verbringen. Die beiden Fächer klappen hoch. Ist auch gut so, sagt sie weiter, hier kann man doch verrückt werden, in diesem Arschloch hier! Nichts ist hier los, und es gibt bloß diese Grobiane von Matrosen, in Kopenhagen gibt es Museen und Alleen und irrsinnig viel Verkehr und überhaupt das Leben! Ich verstehe überhaupt nicht, wie die Leute es aushalten, hier hängen zu bleiben.
    Ach so, ja dann.
    Sie geht weg.
    Bestens.
    Weg.
    Übers Meer.
    Unglaublich weit weg.
    Ja, toll, gute Reise! Was hat das mit ihm zu tun? Er hat doch kein Interesse an ihr, kennt sie gar nicht, nicht im Geringsten, sie ist ihm völlig fremd, kommt aus einer anderen Welt, endlos weit von seiner entfernt, ein Ozean liegt zwischen ihnen, egal, ob sie in Kopenhagen ist oder hier.
    Aber trotzdem. Sie geht weg. Mit diesen Augen. Und diesen Schultern! Sie geht weg.
    Und lässt die Berge hier.
    Und mich unter ihnen begraben.
    Darum also ist die Traurigkeit irgendwo da draußen in der Nacht schon mit einer geladenen Flinte unterwegs auf dem Weg zu mir und knallt mich ab wie einen Hund, denkt er und ist sich sicher, dass er sich am Ende lächerlich machen wird.
    Warum sagst du nichts?, fragt sie spitz, und wieder scheint nicht viel zu fehlen, und sie würde mit dem Fuß aufstampfen. Und hör endlich auf, meine Schultern so anzuglotzen! Gott, wie blöd du sein kannst!
    Wer unter Bergen mit jähen Abstürzen zurückgelassen wird, darf sich eigentlich erlauben, alles zu sagen, weil er sowieso nichts mehr zu verlieren hat, und natürlich auch nichts zu gewinnen.
    Ich sage nichts, weil die Traurigkeit irgendwo da draußen in der Nacht mit einer geladenen Flinte schon auf dem Weg zu mir ist, und ich schaue deine Schultern so an, weil sie schöner sind als der Mondenschein, und ich könnte sie nie beschreiben, und wenn ich zehn Jahrhunderte leben würde, und ich …, der Junge verstummt, weil ihn die Worte urplötzlich verlassen haben, eine ganze Sprache ist verschwunden und hat nichts als Schweigen zurückgelassen. Sie stehen jetzt

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