Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
ganz dicht beieinander, so dicht, dass sie denselben Sauerstoff einatmen, ihn teilen, und sie hat diese Schultern und sieht ihn an und atmet, atmet ihn einfach ein, und alle Wörter dieser Welt sind verschwunden, und der Junge tut deshalb das Einzige, was man tun kann: Er gehorcht dem Befehl seines Herzens.
Seine Lippen schweben lange in der leeren Luft. Sie schweben und steigen durch die Luft in die Atmosphäre auf, brauchen sehr lange auf ihrem Weg durch das dunkle Weltall, landen aber schließlich auf den mondscheinweißen Schultern. Dann streift der Junge mit den Lippen leicht ihre Oberfläche entlang, den Hals hinauf bis zum Ohrläppchen, das weiß und hart und weich ist; er hört sie atmen, fühlt ihre Hand auf seinem Bauch, dann greift sie ihm um den Kopf, zieht ihn herab und küsst ihn, und ihre Lippen sind heiß, sie sind feucht und sie sind und sie sind und sie sind.
Dann lässt sie seinen Kopf los, dreht sich um, geht schnell auf den Esssaal zu, öffnet, ein paar Worte fallen, sie geht hinein, schließt die Tür hinter sich, und die Worte sterben auf dem Boden vor seinen Füßen.
XII
Am nächsten Tag regt sich nichts, der Wind, so durchsichtig wie die Zeit, ist verschwunden. Er hat sich mit der Nacht verzogen und bloß ein entschuldigendes Lüftchen zurückgelassen.
Der Junge braucht lange, bis er wach wird. Er döst noch vor sich hin. Im Halbschlaf denken die Menschen wenig, sie nehmen Dinge wahr, die leicht in ihre Träume Eingang finden, er weiß aber schon, dass oben an der Oberfläche das Wachsein wie ein helles Lärmen wartet, und so brummt er nur irgendwas, versucht, sein Blut in Sand zu verwandeln und sich so schwer zu machen, dass er wieder sinkt. Schlaf ist ein dunkler Zufluchtsort, und er sinkt.
Lange waren sie nicht mehr im Hotel geblieben. Er hatte die knapp 400000 Kilometer durchs Weltall zurückgelegt, um eine Schulter zu küssen und ein Ohrläppchen, und er war daraufhin selbst geküsst worden. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er neben Helga am Tisch gesessen, die schließlich die Karten fortwarf und sagte: Gut, gut, jetzt gehen wir.
Nein, nein, nichts da, hatte Gísli gerufen und richtig erschrocken geklungen. Nicht jetzt schon gehen, das dürft ihr nicht! Nein, wirklich nicht. Ási hilf mir, dass sie noch bleiben! Wir haben über so vieles noch nicht gesprochen heute Abend, und die ganze schrecklich lange Nacht liegt noch vor uns.
Wörter gehen nicht verloren, und es kommt auch noch mal ein anderer Abend, sagte Helga.
Das können wir nicht wissen, erwiderte Gísli. Irgendwann schlägt der letzte Abend, und dann ist es zu spät zum Reden.
Das Risiko gehe ich ein, meinte Helga.
Ási wollte sich ebenfalls erheben, zu Hause würden sie vielleicht schon auf ihn warten, aber Gísli hielt ihn mit Gewalt zurück. Bleib, sagte er, es tut so weh, allein zu sein. Lass uns zusammen reden, Ási, reden wir und reden und reden, bis wir nicht mehr wissen, wer wir sind und wie wir heißen. Glaubst du, Ási, Gott braucht dich noch, wenn du tot bist?
Sie brauchten eine ganze Weile, um vom Hotel nach Hause zu kommen. Der Wind hatte beträchtlich nachgelassen, und sie konnten aufrecht gehen, Kolbeinn wehrte jegliche Hilfe ab, er schüttelte Helgas Arm ab und ging selbstständig, indem er tastend einen Fuß vor den anderen setzte, die beiden je zu einer Seite, bereit, stützend zuzugreifen, was sie auch dreimal tun mussten. Was glaubst du, wer von beiden mir das Augenlicht genommen hat, Gott oder der Teufel?, fragte er den Jungen, nachdem er zum dritten Mal gefallen war und Helga ihm wieder den Schnee abklopfte.
Ich weiß es nicht, antwortete der Junge, aber ich hoffe, du endest da, wo das Augenlicht auch gelandet ist.
Da lachte der alte Steinbeißer dieses trockene, heisere Lachen, das mehr einem traurigen Bellen glich, und für den Rest des Weges durften sie ihn unterhaken.
Geirþrúður wartete im Wohnzimmer, der Junge sollte doch aus Shakespeare lesen.
Bring mich weg von diesem Ort, sagte sie und drückte ihm das Buch in die Hand. Und das tat der Junge, er brachte sie alle fort, auch sich selbst, weg von Ragnheiður, von der Erregung, dem Kuss, der Gefühlsseligkeit, dem Vermissen. Er las, und der Abend verging, es wurde Nacht, die große Uhr stand sprachlos in der Ecke. Jetzt halte ich die Zeit an, hatte Geirþrúður irgendwann einmal gesagt, und seitdem ist die Zeit in diesem Zimmer nicht mehr hörbar vergangen, das Pendel hängt bewegungslos und wie ein verurteilter
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