Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
grüßen oder um nach ihnen zu greifen.
II
Es ist gut drei Wochen her, seit er zuletzt gerudert ist, die Berührung der Riemen bringt ihm alles zurück, den Sechsruderer und die Fischerhütte, Bárður und das erloschene Leben, die Augen, die gebrochen sind und sich in zwei Kältelachen verwandelten. Er klammert die Hände um die Ruder, stemmt die Füße ein, beugt sich weit vor und dann mit geradem Rücken zurück, holt so mehr Kraft aus dem Zug, und die braucht er, denn der Nordwind steht ihnen fast genau entgegen; immerhin liegen so ihre Gesichter und die bloße Haut und die empfindlichen Augen im Windschatten. Marta und Gísli sind verschwunden, niemand steht vor dem Sodom, das Haus schrumpft, sie entfernen sich von der Zivilisation. Mit Mühe. Es werden anstrengende fünfzehn Kilometer, und als sie aus dem Fjord hinaus aufs Djúp kommen, wird es noch schwerer, das Meer wird tiefer, der Wind nimmt zu, die Wellen steigen höher. Eine altbekannte Furcht erwacht in dem Jungen, nur eine dünne Planke hat er unter seinen Füßen und dann viele Meter kalter See; etwa hundert werden es sein, als sie die Mitte des Djúps erreichen und über seine tiefste Rinne hinwegrudern.
Sie rudern, rudern aus dem Windschatten des Bergstocks, kämpfen sich auf das bleischwere Meer, langsam, schleppend. Der Wind fällt nun etwas seitlicher ein, die Wellen rollen unregelmäßig an, bilden eine sich auftürmende Landschaft um das Boot, steigen und fallen, kaltblau, etwas Grün hineingemischt; vom Land aus sehen sie gar nicht so hoch aus und auch nicht, wenn man an Deck eines richtigen Schiffs stünde, aber wer in einer so kleinen Nussschale sitzt, kann nicht anders, als den Ozean in ihnen zu sehen, das Weltmeer. Sie sind groß genug, um über das Boot aufzuragen, um ganz schnell ringsum das Land ihren Blicken zu entziehen; eigentlich unbegreiflich, dass sie nicht sofort kentern. Boot ist in der Tat ein zu großes Wort für diesen Nachen, der nicht viel größer ist als ein mittelgroßes Bett. Wenn nur eine dieser Wellen über ihnen zusammenschlägt, verwandelt er sich in ein Totenbett. Die beiden Männer rudern im Takt, tauchen die vier Ruderblätter ins Wasser, legen ihr ganzes Gewicht hinein und ziehen mit all ihrer Kraft, und trotzdem kommen sie kaum von der Stelle. Das Meer hebt den Kahn, sie schauen sich um, sie sinken, und es verschwindet fast alles, bis auf die Wellen. Teufel, Teufel, denkt der Junge, wirft dann und wann einen Blick zurück zum Land und sieht, dass sie das Kirkjufell hinter sich zurücklassen, unmerklich fast, aber doch, und das bedeutet, das Meer unter ihnen wird tiefer.
Er hört Jens atmen, sie haben noch kein Wort gewechselt, dabei wäre es gut, jetzt miteinander zu reden, Worte helfen oft, sie lindern die Einsamkeit, du stehst dem Meer nicht so spürbar allein gegenüber. Während sich der Junge nach hinten lehnt, wirft er einen Blick über die Schulter. Er möchte etwas sagen, egal was, nur Verbindung zu einem anderen Menschen aufnehmen, etwas über den Wind, etwas über das Meer, über die Anstrengung, er blickt über die Schulter zurück, schaut aber sofort wieder nach vorn. Jens ist leichenblass, seine Augen sind nur zwei winzig kleine, schwarze Steine, die den Jungen voll Panik anstarren. Dieser große Mann, der vor keinem Sturm Angst hat, der in schlimmstem Unwetter auf menschenmordenden Hochebenen herumgeirrt ist und doch niemals aufgegeben hat, dieser Mann ist starr vor Furcht. Er hat Angst vor dem Meer, hat Helga gesagt, er klappt zusammen, und jetzt sieht der Junge, was sie gemeint hat. Der Wind nimmt zu. Sie rudern, die Wellen brechen rund um das Boot, und das Meer brüllt wie ein Ungeheuer, es ist nur selten still, die Wellen bilden tiefe Täler.
Halt den Takt, ruft der Junge. Er muss schreien, um sich überhaupt verständlich zu machen, der Wind und das Meer verlieren allmählich die Geduld mit ihnen. Was habt ihr hier verloren?, faucht der Wind, und die Wogen steigen in die Höhe und brechen oben über ihren Köpfen.
Hörst du?, ruft er wieder und rudert weiter, er hört nicht auf, nimmt die zunehmende Müdigkeit nicht zur Kenntnis und die Anstrengung nicht. Hörst du mich, Jens?, schreit er aus Leibeskräften, und Jens lässt einen Ton hören, der einem Ja nahekommt.
Alles kein Problem, ruft der Junge aufmunternd, überlegen, abgeklärt, als sei er in kürzester Zeit um Jahre gereift und habe jeglichen Wankelmut hinter sich gelassen. Wir müssen bloß gleichmäßig ziehen, denselben
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