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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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auf, Jens faucht etwas Unverständliches, reißt sich los und liegt zum vierten Mal da. Und bleibt liegen. Ich muss nachdenken, murmelt er in den Schnee. Der Junge will ihn hochziehen, ist aber nicht stark genug. Jens, sagt er, bekommt aber keine Antwort. Und dann steht er da, der Junge, es schneit, und so geht es also: erst ist Bárður erfroren, und jetzt soll ihm mit dem kräftigen Jens das Gleiche passieren. Er sinkt auf die Knie, weiß nicht ein noch aus. Ein paar Zeilen aus einem Brief seiner Mutter fallen ihm ein. »Es hat viel geschneit, allen zum Verdruss, nur deiner Schwester nicht. Sie hat Sigmar dazu gebracht, ihr zwei Schneemänner zu bauen. Der eine warst du, der andere dein Bruder. Jetzt sind sie beide bei uns, hat Lilja gesagt. Am liebsten hätte sie draußen bei euch im Freien übernachtet. Schluchzend musste ich sie ins Haus tragen.«
    Er kriecht auf allen vieren und rollt den Schnee zu immer größeren Kugeln, Jens schaut auf, schafft es, den Kopf, diesen schweren Eisblock, aus dem Schnee zu heben: Was zum Teufel machst du da?
    Ich baue für meine Schwester einen Schneemann, antwortet der Junge.
    Scheiße, sagt Jens. Halla und sein Vater werden mittlerweile Richtung Norden Ausschau halten und auf ihn warten, zwei Menschen, deren ganze Existenz von ihm abhängt. Steif und schwerfällig richtet er sich auf und geht los. Der Junge kann seinen Schneemann nicht fertig bauen, sie kämpfen weiter gegen Wind, Schnee und Kälte an. Der Schnee legt sich auf sie, sie gehen weiter, Schritt für Schritt, ausgekühlt, aber ungebrochen. Dann stürzt Jens zum fünften Mal. Vielleicht weil es nun bergauf geht, nicht sehr steil, aber steil genug. Es schneit, sie schneien ein. Es fegt so unablässig den Berg herab, der Schnee stiebt so dicht um sie, dass sie kaum atmen können. Jens tastet kraftlos nach dem Posthorn, kann es von der Schulter zerren und dem Jungen reichen, er will auch etwas sagen, aber ihm sind die Worte im Mund gefroren, denn zuerst erfriert die Sprache, dann das Leben. Der Junge öffnet das Lederfutteral, richtet sich auf, legt die frostschmerzenden Lippen an das Horn, füllt die Lungen und stößt ins Horn. Es kommt nur etwas, das dem Quieken eines erschreckten Vogels gleicht. Er versucht es ein zweites Mal, und der Ton wird kräftiger, lauter und dringt durch den fallenden Schnee, gegen den Wind, vermutlich nicht sehr weit, bevor er erstirbt. Der Junge bläst noch einmal, das klare Signal dringt durch den Wind, Hilfe, ruft es, Leben, wo bist du?, fragt es.
    Sie lauschen. Jens klopft auf sich ein, will die Kälte aus sich herausklopfen. Sie müssen sich natürlich im Schnee eingraben, das ist ihre einzige Hoffnung, die allerdings keine Hoffnung ist, für den Jungen vielleicht, aber keinesfalls für Jens, er würde am Tod festfrieren. Jens blickt zurück Richtung Meer, als könne er schon von dort eine Schar Ertrunkener heranziehen sehen, die ihn holen wollen. Der Junge lauscht lange, er hat ein bisschen zu zittern angefangen. Er trompetet noch einmal, lauscht, glaubt, etwas zu hören.
    Jens, sagt er, aber da bellt ein Hund irgendwo im Schneefall, gar nicht weit weg, und kurz darauf ruft eine Männerstimme zögerlich: Hallo, seid ihr lebendige Menschen oder Gespenster?

III
     
    Der Hof steht auf einem Absatz, vielleicht von einer dünnen Grasnarbe umgeben, Wiese wäre sicher ein zu großes Wort, und jetzt liegt alles Land ohnehin unter einer dicken Schneedecke begraben. Man hätte an dem Hof vorbeilaufen können oder sogar über ihn hinweg, ohne etwas zu bemerken, ohne zu vermuten, dass unter den Füßen das Leben haust. Hier verschwinden ganze Höfe und Stallungen unter dem Schnee, der vom Himmel fällt und über die Kante der Bergwand herabweht.
    Sie müssen die Posttaschen am Abhang zurücklassen.
    Ho… hole sie … später, sagt der Bauer leise und so zögernd, als habe er Angst vor den Worten. Sein Körper kennt jedoch kein Zögern, Jens soll ihm den Arm um die Schultern legen, und dann schleppt er ihn die Anhöhe hinauf, der Junge taumelt unsicher hinterher. Es sind nicht mehr als zweihundert Meter bis zum Hof, im Sommer, wenn alles grün ist und der Himmel ein reines Blau, ist es ein Spaziergang, doch jetzt ist es ein langer Marsch, zehn Kilometer oder zwanzig, der Bauer muss zweimal anhalten, um zu verschnaufen. Der Hund springt um sie herum, ein Ohr hängt, der Schwanz ist nach vorn gebogen, die Zunge hängt ihm aus dem Maul. Besuch ist schön, er bringt neue Gerüche mit und Leben ins

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