Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Graue verhält sich ihnen gegenüber nicht mehr feindselig, das wäre viel zu kräftezehrend, weder Mensch noch Tier haben noch die Energie für einen Luxus wie Feindseligkeit, sie haben für überhaupt nichts anderes mehr Kraft als dafür, sich vorwärtszumühen, sich dem Wind entgegenzustemmen, tief in sich zu gehen und dort neue Kraft zu finden, einen Grund, weiterzugehen, eine Möglichkeit, den Lebenswillen noch einmal zu beflügeln. Die Männer sind nass von Schweiß, der sich jedes Mal in einen eisigen Film verwandelt, sobald sie stehen bleiben und durchatmen. Der Wind, der ihre Kleidung durchdringt, hätte dann leichtes Spiel, sie umzubringen.
Ganz oben am höchsten Punkt der Heide steht eine Schutzhütte, brüllt Jens; er muss brüllen, um den Sturm zu übertönen. Da bleiben wir und warten, bis das Schlimmste vorbei ist.
Aber wann müssen wir nach Norden abbiegen?, schreit der Junge zurück. Er ist natürlich froh, zu hören, dass es hier oben eine Hütte geben soll, noch dazu eine mit einem solchen Namen: Schutzhütte; aber die Angst, über den Núpur hinauszugehen, das ungute Gefühl, sich nicht auf die Erde verlassen zu können, steckt so tief in ihm, dass er sich sofort vor Angst versteift, wenn der Schnee unter ihm wieder einmal nachgibt.
Bevor wir abschmieren, ruft Jens zurück und zerrt wieder das arme Pferd aus dem Schnee und weiter gegen den Wind, der Junge schiebt am Hinterschenkel, und seine Muskeln zittern vor Erschöpfung. Wie lange kann man so weitermachen, fragt er sich matt, dreht das Gesicht aus dem Wind, spannt an und schiebt und schiebt, die Stute gibt einen unterdrückten Laut von sich, als sie freikommt, sie stampft sich vollends heraus, und der Junge fällt mit dem Gesicht voraus in den Schnee, bleibt reglos liegen und will nie wieder aufstehen, es fühlt sich nämlich wundervoll an, als läge er geradezu unter dem Wind, unten im Schnee ist alles ruhig. Zum ersten Mal seit langer Zeit hört er sich selbst atmen, und das ist gut, es ist zum Staunen. So atme ich also, denkt er, und selten hat er sich so wohlgefühlt. Welche Rolle spielen schon Schultern aus Mondlicht, welche Rolle spielen Worte und Wissen im Vergleich zu diesem Gefühl, dieser Ruhe? Die rohe Gewalt und Erbarmungslosigkeit der Welt toben unmittelbar über ihm, dennoch liegt er hier in völliger Sicherheit.
Aber nicht lange.
Jens reißt ihn rüde aus seiner daunenweichen Ruhe, zerrt ihn aus der Stille und stellt ihn wieder in den schneidenden Wind, in das undurchdringliche Schneetreiben und die zerstörerische Kälte, zerrt ihn hoch und schüttelt ihn wie einen leeren Sack.
Ja, ja, sagt der Junge benommen, hör schon auf!
Aber Jens hört nicht auf, er schüttelt den Jungen sogar noch heftiger. Wenn ich dabei bin, stirbt keiner, sagt er, oder so ähnlich. Es ist nicht einfach, Gesprochenes mitzubekommen, während man derart gebeutelt wird; das ist wirklich das Letzte, unerträglich. Aber das alles, der Schnee, der Berg, der Sturm, ist das Letzte und nicht auszuhalten, es ist so unerträglich, dass der Junge eine Riesenwut darauf entwickelt, aber richtig, sich losreißt und dann mit der im Handschuh geballten Faust auf Jens eindrischt, zwei-, drei-, viermal. Jens kann ausweichen, aber die Graue schaut die Menschen mit ihren großen Augen an und scheint sich ihren Teil zu denken, und das fällt nicht gerade vorteilhaft für die Menschen aus. Dann ist die Wut heraus, verlässt den Jungen ebenso schnell, wie sie über ihn gekommen ist, und Jens sagt vollkommen ruhig: Wir gehen weiter, und du legst dich nicht noch einmal hin.
Nein, nein, sagt der Junge ebenso ruhig, als stünden sie irgendwo auf einer Straße und würden sich unterhalten, fern von allen Gefahren, vom Sturm und vom Abgrund.
Und sie gehen weiter.
Es wird natürlich langsam Abend über ihnen, und ebenso selbstverständlich findet die Nacht sie da oben, zumindest scheint es um sie herum ein wenig dunkler zu werden, wenn es nicht einfach Erschöpfung ist, die alles dunkler aussehen lässt; sie stapfen voran, ohne darüber nachzudenken. Wozu auch? Die Welt ist schrecklich einfach hier oben, alles fällt von einem ab, Kummer, Ungewissheit, Unglück, Gewissensbisse, Scham, nichts dergleichen belastet den Jungen mehr, bis auf die Müdigkeit natürlich und die hartnäckige Angst vor dem Abgrund. Mit aller verbliebenen Kraft schiebt er das Pferd und ist jederzeit bereit, sich nach hinten zu werfen, falls die Erde nachgeben sollte. Zweimal scheinen Jens und die
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