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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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können alles zwischen zehn Minuten und vier Stunden bedeuten. Dauert es noch eine halbe oder sechs Stunden? Hoffentlich nicht sechs Stunden, denn dann kann man sich genauso gut gleich hinlegen und sterben, aufgeben, mit dem Weiß verschmelzen, in die Stille eingehen.
    Noch eine halbe Stunde, höchstens, ruft Jens und tritt so nah an den Jungen heran, dass der zwei kleine, schwarze Punkte im Gesicht des Briefträgers ausmacht, Augen, schwarz vor Anstrengung und Härte. Sie legen sich gemeinsam ins Zeug, einmal noch, um das Pferd erneut aus dem Schnee zu ziehen, zum hundertsten Mal schnallen sie ihm die Posttaschen ab, um das Gewicht zu vermindern, sie zerren, sie wuchten die Taschen herum, bis die Stute wieder freikommt, schnallen ihr die Taschen in der Hoffnung, dass sie nicht noch einmal stecken bleibt, wieder auf, was natürlich ein vollkommen verfehlter, aber vielleicht doch vertretbarer Optimismus ist, da sich die Mächte ihnen nun gewogener zeigen und sie für ihre Ausdauer belohnen. Sie sind jetzt so hoch und dem Himmel so nah, dass die Kälte den frisch gefallenen Schnee gleich verharschen lässt. Zunächst bildet sich natürlich nur eine dünne Schicht, die die Männer trägt, das Pferd aber bricht weiterhin ein und steckt nun fast noch fester im Schnee als vorher. Sie müssen sich auf alle viere niederlassen und die Harschdecke um das Pferd mit den Händen wegbrechen, damit die scharfen Kanten nicht seine Beine verletzen. Trotzdem tut es so unbeschreiblich gut, wieder über einen Untergrund gehen zu können, ohne bei jedem Schritt einzubrechen, dass sie tatsächlich fröhlich werden. Die verharschte Schicht wird dicker, bald trägt sie die Männer und das Pferd, und sie brauchen jetzt nur noch sorgsam darauf achtzugeben, dass der unablässige Seitenwind sie nicht vom richtigen Weg abbringt. Ab und zu blickt der Junge auf, um zu kontrollieren, dass die Stute noch vor ihm geht und er Jens noch sehen kann, dann aber senkt er rasch wieder den Kopf, denn die Schneekörner tun in den Augen weh. Und dann endlich hebt die Graue den Kopf und wiehert leise. Jens dreht sich um, und der Junge erkennt so etwas wie ein Lächeln hinter der Maske aus Reif und Eis. Da steht die Schutzhütte. Sie sind gerettet. Es gibt doch Gerechtigkeit in dieser Welt.
    Gepriesen seien die freundlichen Menschen, denen das Leben ihres Nächsten so am Herzen lag, dass sie die Hütte bauten, dieses Bollwerk der Welt, hier ganz oben, fast an den Himmel grenzend, wo die Stürme so heftig fegen, dass sie selten ein Gebäude im Schnee begraben oder vor den Augen von Menschen verstecken. Natürlich ist alles weiß von Schnee, aber trotzdem sehen sie es ganz deutlich, zwischen den stäubenden Schneeschleiern erkennen sie einen von Verwehungen flankierten Giebel; er trägt ein kleines Vordach, als wollte er nach verängstigten und versprengten Seelen Ausschau halten und sie zu sich rufen. Sicher, groß ist es nicht, es handelt sich wirklich nur um eine winzige Hütte, aber hier ist sie so viel wert wie ein Palast. Sie werden unter ein schützendes Dach kommen. Und genau in diesem Moment spüren sie ihre Müdigkeit, sie trifft sie wie ein Faustschlag, ihnen bleibt die Luft weg, es wird ihnen kurz schwarz vor Augen, als hätten sie ihre allerletzten Reserven aufgebraucht, um die Hütte zu erreichen, und, gottverdammtnochmal, wird das guttun, wahnsinnig gut, drinnen endlich Schutz vor diesem Wind zu finden, sich hinzulegen, am Proviant zu knabbern und zuzuhören, wie der Sturm draußen an der Hütte rüttelt, ohnmächtig vor Wut darüber, dass ihm die beiden Menschen und das Pferd entschlüpft sind. Aber erst einmal müssen sie um die Hütte herumgehen und die Tür finden, ihre gnädige Umarmung. An der Hausecke lauert der Sturm auf sie und will sie einfach wegblasen, aber sie lassen sich nicht mehr wegwehen von Schutz und Ruhe und Frieden.
    Wir sind gerettet, schreit der Junge in den Sturm, als er den Türrahmen entdeckt, und möchte Jens und die Stute am liebsten umarmen und mit Koseworten überschütten.
    Nein, sagt Jens, wohl kaum. Mehr braucht er auch nicht zu sagen. Sie sind keineswegs in Sicherheit, denn der Sturm hat längst die Tür weggerissen, er hat sie abgerissen und fortgeworfen, und alle drei, Mensch und Tier, blicken in eine Hütte, die mehr als zur Hälfte mit Eis und Schnee angefüllt ist, die in ein Kühlhaus verwandelt wurde und niemanden vor diesem Wetter beschützt; aber sie ist natürlich bestens geeignet, um Fleisch aufzubewahren

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