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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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bis man zu weit gegangen ist und fällt. Wie tief? Siebenhundert Meter abwärts in den Fjord, im freien Fall und direkt ins Meer, sofern Flut herrscht, sonst auf die Felsblöcke am Ufer.
    Der Junge schloss kurz die Augen.
    Es sei denn, du fällst auf einen Sims, schob Jónas nach, und der Junge öffnete die Augen wieder.
    Wie der Bauer. Der stürzte ab, landete aber nur wenige Meter tiefer auf einem Sims, fiel in eine daunenweiche Schneehalde, ohne sich was zu brechen.
    Er hat überlebt, sagte der Junge, froh und glücklich darüber, dass das Leben trotz allem doch Erbarmen kannte, und das sogar hier, an diesem Flecken Erde.
    Er überlebte, ja, wenn man so will; aber nur, um anschließend auf dem Felssims zu verhungern oder zu erfrieren. Leute, die sich im nächsten Frühjahr zum Eiersammeln die Felsen herablassen wollten, haben ihn gefunden. Die Vögel hatten ihm so dies und das abgefressen, aber das Päckchen, das er bei sich trug, das war noch heil. Es enthielt eine Sendung vom Pfarrer in Vík, die Übersetzung irgendeiner französischen Geschichte und einen Brief nach Dänemark. An Literatur und solchem Blödsinn hat ein Vogel kein Interesse, der ist schlau, hatte Jónas gesagt und den Arm des Jungen so fest umklammert gehalten, dass er sich hatte losreißen müssen, um Jens und dem Pferd nachzulaufen.
    Jens, sagt der Junge mitten in das Schweigen, wir müssen uns vor diesem verdammten Núpur vorsehen. Du hast die Geschichte gehört, die Jónas im Pferdestall erzählt hat …
    Ja, ja, sagt Jens und tritt aus dem Windschutz in den Sturm, die Graue zieht er hinter sich her.
    Wozu muss es dermaßen viel schneien, was soll das für einen Sinn haben?
    Sie ziehen weiter.
    Gegen Wind und Wetter, gegen den Schnee, sich nur immer weiter einen Weg bahnen, das ist das Einzige, was hilft. Weitergehen oder aufgeben. Weitergehen, ja, aber nicht zu weit, irgendwo müssen sie die Richtung ändern, ehe die Erde zu Ende ist und nur noch der Abgrund wartet. Ein siebenhundert Meter tiefer Fall. Es ist kein sonderliches Vergnügen, so im Dunkeln herumzustochern, kaum die eigene Hand vor den Augen zu sehen, und das im Bewusstsein, dass irgendwo vor einem ein solcher Abgrund lauert. In dem Wissen, dass Schnee gern über die Kante weht und mit der Zeit große, überstehende Platten bildet, die nicht vor dem Frühjahr abbrechen, es sei denn, jemand tritt in einem Sturm ohne Sicht versehentlich darauf. Wir können uns in dieser Welt nicht auf viele Dinge verlassen, selbst die Götter lassen uns für gewöhnlich im Stich, Menschen erst recht, aber die Erde täuscht uns nicht, du kannst ohne Zögern die Augen schließen und ein Bein vorstrecken, sie nimmt dich entgegen. Ich passe auf dich auf, sagt sie, darum nennen wir sie Mutter. Die Enttäuschung kann man sich kaum vorstellen, die den Menschen erfasst, wenn er damit rechnen muss, dass die Erde im nächsten Augenblick unter ihm verschwindet, dass der Schnee nachgibt und nur noch Luft um ihn ist, der Abgrund, der Fall. Der Junge stapft hinter dem Mann und dem Pferd her. Es ist offensichtlich, dass sich die Heide nicht im Geringsten um sie schert. Jónas hatte ganz recht, derzeit macht sie sich nicht viel aus Gesellschaft. Der Schnee fällt in Massen, der Wind fegt ihn zu Verwehungen zusammen, und obwohl Frost herrscht und die Wehen mit zunehmender Dichte verharschen, werden sie doch nicht hart genug, um Mensch und Tier zu tragen, ständig brechen sie ein, manchmal nur ein paar Zentimeter, was schwer und ermüdend genug ist, manchmal versacken die Beine auch vollständig, und dann sitzen sie fest, müssen all ihre Kraft aufwenden, um sich loszureißen, erst das eine Bein, dann das zweite. Dabei sind die Menschen noch kaum zu bedauern, sie sind bloß Zweibeiner und haben diesen aufrechten Gang, als sei ihr Körper permanent in ein Tauziehen zwischen Himmel und Erde gespannt, außerdem haben sie Hände, um sich auszugraben; das alles gilt nicht für das Pferd, die Graue. Sie hat vier Beine, ausgesprochen dünne dazu im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht. Sie brechen leicht ein, und dann steckt sie bis zum Bauch fest. Dann muss Jens ziehen und der Junge schieben, beide rutschen aus oder brechen selbst ein, und die Stute müht sich, freizukommen, es ist wie verhext, aber wie durch ein Wunder klappt es doch, das Pferd kommt frei – und steckt nach nur wenigen Schritten schon wieder fest. Der Wind pfeift, jetzt hat er seinen Spaß, heult den beiden Männern und dem Tier um die Ohren, und die

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