Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
kleinen Gemeinde, ihnen nachsehen, missmutig, weil er ihre Gesellschaft verlor. Was sollte er jetzt tun, wie konnte er die Zeit herumbringen? Die Frau schlief drinnen im Haus, wollte vielleicht lieber mit ihren Träumen zu tun haben als mit ihrem Mann, der draußen zusah, wie Schnee und Sturm das Pferd und die Männer verschluckten. Er stand da mit so viel Missmut im Mund, dass er ihn aufreißen musste, um den Druck herauszulassen.
Lieber möchte ich in dem Unwetter herumirren als in seinen Geschichten, hatte Jens dem Jungen zugeraunt, und dann sprachen sie nicht mehr, der Sturm und das Pferd standen zwischen ihnen, sie stiegen zu der Heide auf, die in siebenhundert Metern Höhe über dem Meer liegt, Verbindungsweg zwischen Vík und der Winterküste. Theoretisch wäre es auch möglich gewesen, unten am Ufer entlangzugehen, sich vorsichtig über das Geröll am Fuß der schwindelerregend hohen Bergwände vorzutasten, aber dann wären sie bestimmt von der Gischt übersprüht und durchnässt worden, und die Kälte hätte den Rest besorgt, oder ein überhängendes Schneebrett hätte abbrechen und sie verschütten und ersticken können. Da war es doch besser, den Weg über die Heide zu nehmen. Dieser beschissene Bergpfad, sagt Jens. Sie haben im dürftigen Windschutz eines Felsens angehalten, um kurz zu verschnaufen. Mehr als drei Stunden haben sie sich vorangekämpft gegen den Wind, der um sie tobt wie eine weiße Bestie. Jens’ Bart ist vollständig weiß, in seinen Augenbrauen hängen Eisklümpchen. Auch wenn der Fels nicht viel Schutz bietet, hält er den Wind doch so weit ab, dass sie unbehindert Atem holen können, ohne den Mund voll Schnee zu kriegen. Jens krümelt sich Eisbröckchen aus Bart und Brauen, sie grimassieren mit den Gesichtsmuskeln, die ganz steif sind vor Kälte, sie ziehen Gesichter, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen. Die Graue beobachtet sie und wendet sich dann ab.
Sie mag uns nicht, sagt der Junge und wiederholt noch einmal, was Jónas ihnen gesagt hat, dass nämlich der Hochlandweg, der verteufelte Saumpfad, gegenüber der Uferpassage lediglich das kleinere Übel darstelle. Er wiederholt alles, weil es guttut, zu reden. Jens sagt nur Ja, guckt in den Sturm und wünscht sich, dass der Junge zu quatschen aufhört, man erholt sich nämlich am besten, wenn es still ist, Worte haben schon viel zu viele vom Weg abgebracht. Der Junge sieht seinen schweigenden Gefährten an und verstummt mitten im Satz; er denkt an die Geschichte, die ihnen Jónas in den wenigen Minuten, die Jens brauchte, um das Pferd fertig zu machen, von Núpur erzählt hat.
Ein Verwandter von mir, hatte Jónas begonnen und nach dem Arm des Jungen gegriffen, als wollte er ihn am Weggehen hindern, ein Verwandter hat sich vor einigen Jahren mit drei anderen zusammen auf die Suche nach einem Bauern gemacht, der auf die Hochheide gegangen und, verfluchter Berg, nicht wieder zurückgekommen war. Sie sind ihn suchen gegangen, sobald es möglich war, sobald sie in dem Sturm wenigstens aufrecht stehen konnten. Aber sie haben ihn nicht gefunden, hatten auch nicht damit gerechnet, denn sie glaubten zu wissen, dass er beim Núpur abgegangen war.
Abgegangen?, fragte der Junge.
Ja. Abgestürzt.
Der Junge sah Jens zu, wie er der Stute die Trense ins Maul schob. Welcher Núpur?, fragte er schließlich, und einige Bruchteile von Sekunden hatte Jónas vor Staunen nichts sagen können.
Kennst du den Núpur nicht, Junge? Und willst bei diesem Wetter auf die Heide? Man sollte euch einsperren, bis der Sturm nachlässt, wegschließen, wie man es mit Verrückten macht. Der Núpur ist der Berg hier, liebe Freunde, er ist der Berg, der Wächter der Dumbsfjorde, immer schlecht gelaunt, egal ob bei Schneesturm oder Sommerhelle. Wer sich von hier aus aufmacht hinauf zur Heide, und das bei Sturm und ohne Sicht wie heute, und wer zu weit nach Nordosten geht, wenn er oben angekommen ist, anstatt rechtzeitig genau auf Nord umzuschwenken, ja, mein Junge, den erwartet das gleiche Schicksal wie den Bauern, nach dem mein Verwandter mit drei Helfern gesucht hat: Er wird über die Kuppe des Núpur hinweglaufen und abstürzen. In einem Sturm wie diesem seht ihr nämlich absolut nichts, das kann ich euch sagen, weder euren eigenen Arsch noch den eines anderen. Da oben ist alles weiß und kein Unterschied zwischen Luft und Land, erst recht, wenn es so stürmt, wie es das jetzt gerade tut. Da kämpft man sich voran, verliert die Orientierung, irrt herum,
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