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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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und Tote.
    Sie stehen auf der windabgewandten Seite, und die Lage ist folgende: Sie können sich aussuchen, ob sie bleiben und darauf setzen wollen, hier die größte Wucht des Sturms abzuwettern und dabei das Risiko einzugehen, sich schön langsam zu Tode zu frieren und in der Hütte zu sterben mit all ihren Erinnerungen, mit allen Träumen von einem besseren und angenehmeren Leben und mit der ganzen Post, für die sie die Verantwortung tragen, oder ob sie weitergehen und versuchen wollen, lebend eine menschliche Ansiedlung zu erreichen. Erst einmal essen sie. Sie verzehren den Proviant, den Helga ihnen vor bald vierzig Stunden zusammengepackt hat. Es steckt Kraft in dem gefrorenen Fleisch, sie nagen und kauen und saugen die Kraft ein. Die Graue schiebt ihren Kopf zwischen sie und bekommt ein Stück Brot. Die Männer wechseln ein paar Worte, die Graue bleibt stumm, hält die Augen halb geschlossen. Der Sturm fegt und tobt, und sie befinden sich im einzigen Windschutz weit und breit, ein kleiner Schutzraum ist es für zwei Männer plus Pferd, sie brauchen bloß die Arme auszustrecken und können die wütende Kraft des Sturms fühlen, eines arktischen Sturms, der rasend zu sein scheint gegen alles, was lebt.
    Teufel, sagt Jens und zieht die Flasche heraus.
    Teufel, weil die Tür fliegen gegangen und die Hütte mit Schnee und Tod angefüllt ist.
    Teufel, weil die Kraft des Sturms so gewaltig ist, dass man auf offener Fläche kaum aufrecht stehen kann, geschweige denn gehen, aber genau das müssen sie, wenn sie lebend die Zivilisation erreichen wollen.
    Teufel, weil sie sich in siebenhundert Metern Höhe über dem Meer befinden.
    Teufel, weil er nach dem Fleisch und der bisherigen Anstrengung Durst hat. Durst ist der größte Feind auf diesen Wanderungen. Man hält es kaum aus, sich mitten in dem winterlichen Land aufzuhalten, alles Wasser um einen herum ist gefroren, und man trocknet aus vor Durst. Natürlich kann man Eis auftauen, aber das bringt nur vorübergehende Erleichterung, trägt erheblich zum Auskühlen bei, und man ist nachher genauso durstig wie vorher.
    Teufel, weil ihm furchtbar kalt ist; er ist nicht mehr richtig warm geworden, seit er ins Meer gesprungen ist, seine eigene Dummheit hat die Kälte in seinen Körper gelassen, eine tief sitzende Kälte, die man nicht einfach so abstreift. Das Einzige, was hilft, ist in Bewegung zu bleiben, gegen Sturm und Schnee anzulaufen. Je länger er untätig hier sitzt, desto problematischer wird die Kälte; noch eine halbe Stunde oder vierzig Minuten, und er wird so gut wie tot sein.
    Teufel, weil er jetzt nicht nur die Verantwortung für sich selbst und die Post trägt, sondern auch noch für das Pferd, das ihm nicht gehört, und für diesen Jungen, der neben ihm hockt, in den undurchsichtigen Sturm hinausstarrt und ganz blass ist vor Kälte und Müdigkeit.
    Teufel, weil obendrein, zu alldem, siebenhundert Höhenmetern, Kälte, Erschöpfung, Durst und Verantwortung, dieser Knabe auch noch den Mund aufmacht und zu schwätzen anfängt. Leute, die viel quatschen, sind keine guten Reisegefährten, sie geben frühzeitig auf.
    Er redet von seiner Schwester. Lilja heißt sie, ein schöner Name, das ist wahr. Nein, sie hieß Lilja, sie ist gestorben, was natürlich bedauerlich ist, kann man nichts machen. Dann faselt er von seinem Vater, der ist auch tot; anschließend kommt er auf die Mutter, tot. Meine Güte, ist das ein anfälliges Volk! Lebt denn überhaupt noch jemand? Endlich hält er die Klappe, und das ist auch gut so. Dann fragt er gänzlich unvermittelt: Lebst du allein?
    Ich?, fragt Jens zurück, als könnte sonst noch jemand gemeint sein.
    Ja, du.
    Nein.
    So, das habe ich mir gedacht.
    Hast du das?
    Ja.
    So, so, macht Jens, nicht einmal unfreundlich. Dieser Junge hat so viel verloren, dass man ihm kaum böse sein kann.
    Du lebst also nicht allein.
    Nein.
    Das ist gut.
    Was verstehst du denn davon?
    Ich glaube, es ist schlecht für die Menschen, allein zu leben, es tut ihnen nicht gut. Das Herz sollte für einen anderen schlagen, sonst kühlt es ab.
    Ach so.
    Leben deine Eltern bei dir?
    Ist das denn wichtig?, fragt Jens zurück und hat im Grunde aufgehört, den Jungen zu bemitleiden.
    Ich weiß nicht, vielleicht sehr, vermute ich. Dann wären bei euch noch viele am Leben.
    Mein Vater lebt bei mir, sagt Jens und bereut seine Redseligkeit schon, und dann macht er die Sache noch schlimmer, indem er hinzufügt: und meine Schwester.
    Dann seid ihr ja zu dritt, freut

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