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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Graue schon verschluckt worden zu sein, und er ist in der Bewegung erstarrt, meint sogar, viele hundert Meter weiter unten das Meer zu hören, er spürt die dunkle, saugende Kraft der Tiefe, aber dann lässt der Sturm Jens und das Pferd zwei oder drei Meter weiter vor ihm wieder zum Vorschein kommen.
    Das Gelände steigt noch an. Sie laufen weiter im Sturm, der noch zunimmt, aber dann bekommen sie den Wind nicht mehr von vorn, sondern von der Seite. Hat er vielleicht gedreht?
    Nein, schreit Jens, die Stute kennt den Weg und ist vor Kurzem abgebogen.
    Weg vom Abgrund, denkt der Junge so überwältigt von Glück, dass die Welt kaum schöner sein könnte. Er ist vollkommen selig. Und die Güte der Welt scheint kaum Grenzen zu kennen, denn Jens lehnt sich kurz auf die Graue, beugt sich zu dem Jungen und ruft: Wir sind sicher bald bei der Schutzhütte.
    Schutzhütte!
    Das schönste Wort der Welt!
    Der Junge schiebt dankbar das Pferd an, das ihnen zum zweiten Mal das Leben retten möchte.
    Die Schutzhütte.
    Gute Menschen haben diese Hütte auf dem Hochplateau vor vielen Jahren errichtet, Menschen, die Sorge für ihre Mitmenschen tragen und das Leben wertschätzen und darum nicht möchten, dass es in einem Winter hier zu Ende geht oder in einem Sommer, denn Wetterstürze und Orkane können das ganze Jahr über um diese Berge toben; sicher sind wir nie, nicht einmal bei Sonnenschein im Juni. Die Erbauer haben die Hütte am höchsten Punkt der Heide errichtet, da, wo der Sturm am schlimmsten tost und am wenigsten Aussicht auf Rettung ist. Sie haben sie gebaut, um Leben zu retten und zu verhindern, dass die Toten dort als Wiedergänger umgehen müssen. Es ist schon schwierig genug, dort oben unterwegs zu sein, auch ohne dass einem auch noch Geister über den Weg laufen. Schlimm ist es, in einen Sturm zu geraten, aber noch schlimmer, sich mit Gespenstern herumschlagen zu müssen. Es läuft immer auf das Gleiche hinaus, der Mensch ist selbst im Vergleich mit den Naturgewalten stets das größere Problem.
    Sie mühen sich weiter voran. Jens ist nicht mehr zu erkennen, sein Gesicht ist eisverkrustet, er muss in regelmäßigen Abständen Eis um die Nasenlöcher entfernen, um Luft zu bekommen. Aber trotz allem geht es ihm hier oben gut; hier wächst er, findet er zu sich selbst. Im Tiefland unten ist er schweigsam, verschlossen; da trinkt er zu viel, hat sich nicht immer im Griff, hier oben jedoch, in fast siebenhundert Metern Höhe und mitten im Schneesturm, das Leben auf der einen Seite, den Tod auf der anderen, da ist er ganz bei sich selbst, fühlt er sich wohl. Er ist vielleicht müde, aber nicht mit seinen Kräften am Ende, wenn es sein müsste, könnte er den Jungen auch noch tragen, die ganze Nacht hindurch, es ist eigentlich ein bisschen erschreckend, dass sich dieser Mann nirgendwo anders wohlfühlt als fernab von menschlichen Behausungen und eigentlich fern vom Leben. Dass er nirgends aufglüht außer in Lebensgefahr in den Bergen. Kann ein solcher Mensch überhaupt das Glück finden, ein Leben unten im Flachland mit angenehmen Stunden, freundlichen Worten, Küssen und liebevollen Blicken?
    Der Junge sieht Jens an, spürt die Kraft und die Sicherheit, die von ihm ausgehen, und knüpft seinen ganzen Mut und seine Hoffnung an diesen Mann, der im Sturm noch größer wird, der das Pferd weiterzieht, vor ihnen herstapft, eine Spur bahnt und es Jungen und Pferd leichter macht, ihm zu folgen. Aber trotzdem, jeder wird einmal müde. Sie wandern jetzt bald zehn Stunden über diese Heide, und der vorige Tag war auch schon nicht leicht, um ein Haar hätte das Meer Jens geholt, es hat ihn nur vorläufig noch einmal davonkommen lassen, dem Landbriefträger kommt es so vor, als würde er es manchmal durch den Sturm noch brüllen hören: Ich weiß, dass du da oben steckst, und irgendwann kommst du wieder runter zu mir!
    Der Junge stürzt, rappelt sich auf, das Pferd lässt den Kopf hängen und bleibt minutenlang reglos stehen, der Wind pfeift um sie herum, der Schnee prasselt auf sie ein, die Widerstandskraft lässt nach. Wenn es nicht die Schutzhütte gäbe, würde der Junge kapitulieren. Es tut unbeschreiblich gut, von der Existenz dieser Hütte zu wissen, es ist mit nichts zu vergleichen, außer vielleicht mit dem Glauben an Gott und das Himmelreich in den Nöten des Lebens. Aber wie lang ist es noch bis zu dieser Hütte? Wir fragen nach Minuten, nicht nach Metern, denn Längenmaße sind so gut wie sinnlos; fünfhundert Meter

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