Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
sich der Junge albern. Wie alt ist deine Schwester?
Sie heißt Halla, antwortet Jens, und das nur, weil er ihren Namen aussprechen möchte, die damit verbundene Wärme und ihre Unschuld spüren.
Halla, wiederholt der Junge langsam. Das klingt schön.
Wer bei solchen Touren zu viel quatscht, sollte unten im Tiefland bleiben, sagt Jens und steht auf. Er fühlt die Stiche der Kälte im ganzen Leib, unterdrückt sie aber, packt den Zügel und tritt hinaus in den Wind.
Es ist dermaßen stürmisch, dass es das einzig Gescheite wäre, sich flach hinzulegen und zu kriechen. Anders als ein Pferd hat der Mensch die Möglichkeit, sich in eine Schlange zu verwandeln, Jens geht allerdings dem Wetter aufrecht entgegen, und das Pferd folgt ihm. Der Junge hält sich dicht hinter ihnen und gönnt sich so ein klein wenig Windschatten; die Müdigkeit, die in der Hütte und beim Essen etwas nachgelassen hat, kehrt zurück, macht seine Beine doppelt schwer, und der Wind drückt, die Kälte beißt ihm ins Gesicht, dringt durch die Kleidung und lässt alles steif werden, die Muskeln, das Denken, die Erinnerungen. Aber nicht alles hat sich gegen sie verschworen, der Schnee ist so hart, dass er sie alle trägt. Wer weiß, vielleicht schaffen sie es doch bis zur nächsten menschlichen Ansiedlung, hinab ins Kirchspiel von Vík mit dem Kirchhof Vík.
Das Leben ist doch ziemlich simpel. Wer einen Fuß vor den anderen setzt, dann das Gleiche mit dem anderen tut und das oft genug wiederholt, erreicht am Ende sein Ziel – sofern es existiert. Das ist eine der Tatsachen des Lebens. Aber für Menschen in dichtestem Schneesturm auf einem Bergplateau, durstig, mit den Kräften völlig am Ende, während die Kälte allmählich zu ihrem Herzen vorkriecht, für diese Menschen sind Tatsachen auch nur hohles Gerede. Denn sieh mal genau hin, seit tausend Jahren gehen sie auf diesem Weg, unten an der Küste ist eine Generation auf die andere gefolgt, in der Welt wurden Kriege ausgefochten, Staaten wurden gegründet und haben sich aufgelöst, Welpen sind hoch in die Luft gesprungen und als halb blinde alte Hunde wieder auf dem Boden gelandet, und jemand hat sich mit einem scharfen Messer über sie gebeugt. Die ganze Zeit über sind sie durch blinde Schneestürme gewandert, ein Pferd und zwei Menschen, drei Lebewesen auf dem Weg zu einem Ziel, das ständig zurückzuweichen schien. Die Strapazen und die Aussichtslosigkeit haben sie jedoch zusammengeschweißt, von dem führenden Mann läuft ein starkes Band durch das Pferd zu dem Jungen am Ende. Der Abend um sie herum wird dunkler, aber das Band hält sie zusammen, und einmal stoßen sie noch auf einen einigermaßen passablen Windschutz. Der Junge seufzt erleichtert, Jens allerdings nicht, er sucht und kramt lange nach seiner Taschenflasche, nimmt dann einen tiefen Zug und reicht sie an den Jungen weiter. Das Pferd zwischen ihnen bekommt nichts. Dann hören sie auf den Sturm, der um den Felsblock faucht und auf sie wartet.
Wie alt ist deine Schwester, die Halla?, fragt der Junge, als Jens einen zweiten Schluck nimmt, und vielleicht kommt es vom Schnaps, dem verfluchten Alkohol, der so viel Schlimmes im Leben angerichtet hat, oder es liegt daran, dass er Hallas schönen Namen hier so tief in diesem Unwetter und fern von allen Menschen hört, jedenfalls antwortet er, als ginge es den Jungen etwas an: Sie ist achtundzwanzig.
Und nicht verheiratet?
Was?, schnappt Jens.
Hat sie nie geheiratet?
Nein.
Wieso?
Sie wird auch nie heiraten.
Wie kannst du da so sicher sein? Das lässt sich nie sagen, man weiß nie, was die Zukunft bringt.
Sie ist schwachsinnig, erwidert Jens scharf.
Das tut mir leid, entschuldige, sagt der Junge.
Leidtun, entschuldigen, was für ein Schwachsinn, sagt Jens. Was weißt du denn schon von ihr?
Der Junge räuspert sich, fasst Mut: Und dein Vater?
Der ist alt geworden, sagt Jens und ist schon weitergegangen, ehe der Junge auf die Füße kommt.
Das Gelände fällt ab, sie kommen in tiefere Lagen und sinken auch wieder in den Schnee ein. Es stürmt jetzt seit so langer Zeit, dass es schon im Kopf des Jungen summt und braust; seine Lungen fühlen sich kalt an, er hat jegliche Orientierung verloren, es existiert nichts mehr außer Schnee und Sturm. Unter den Füßen aber liegt nicht mehr kahles, totes Geröll, sondern Gras und Wiesenhöcker, die von Fliegensummen und grüner Farbe träumen. Sollte der Untergrund nicht einen gewissen Trost spenden, verweist der Boden nicht auf eine
Weitere Kostenlose Bücher