Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
liegt einer der beiden Männer wie tot am Boden, absolut nicht fähig, eine Unterhaltung zu führen. Für einen kurzen Moment wird Kjartan böse, aber dann kommt er zur Besinnung und empfindet Verantwortung. Die Männer sind wahrscheinlich mit der Post über die Hochheide gekommen, und das bei diesem Wetter.
Gott stehe uns allen bei, sagt Séra Kjartan laut, allerdings ganz ungewollt, denn die Tage sind längst vorbei, in denen er noch uneingeschränkt und reinen Glaubens geglaubt hat, dass der Mensch auf die Hilfe von Gott zählen könnte. Jens möchte einen Fluch ausstoßen, aber es kommt nur ein undeutliches Gemurmel dabei heraus.
Kümmer dich um die Graue, kann er immerhin so laut von sich geben, dass der Junge es versteht, und dann ist er endgültig weg. Der Sturm tobt ums Haus, und ein wenig davon zieht durch die Tür herein. Kjartan schaut auf die Besucher hinab. Er hat wach gelegen; das ist nichts Neues, er findet oft keinen Schlaf, wie müde er auch sein mag, wenn er zu Bett geht. Sobald er die Augen zumacht, ist er hellwach. Dann wälzt er sich herum, sagt Gebete auf und leiert alte Verse herunter, versucht, zur Ruhe zu kommen und den Schlaf anzulocken, doch meist ohne Erfolg, alle anderen schlafen, aber er liegt wach, um die Gnade des Schlafs ebenso geprellt wie um Gottes Güte. Und das mit Recht, brummt er, steht auf, läuft durchs Haus oder setzt sich in sein Arbeitszimmer, sucht Gesellschaft in Büchern oder in Briefen, in Übersetzungen oder einem guten Schluck, und solche Stunden könnten an und für sich ganz nett und angenehm sein, aber letzten Endes ist es langweilig, immer so allein zu sein, Abend für Abend, Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. Man wird älter dabei und kommt dem Tod näher. Und dann platzen überraschend diese beiden herein, Kjartan war bei dem Klopfen zusammengefahren und hatte im ersten Moment geglaubt, der Unnennbare stünde vor der Tür, um ihn zu holen. Sei nicht so kindisch, hatte er zu sich selbst gesagt. Trotzdem erhob er sich nur zögernd vom Schreibtisch, ging zur Tür und öffnete sie, und davor standen zwei Menschen und Post aus der Welt da draußen, ein Geschenk des Himmels, das aber, wie sich zeigte, zu nichts anderem in der Lage war, als sich bei ihm auf den Fußboden fallen zu lassen wie ein bewusstloses Tier. Würde er sich trauen, würde Kjartan ein paar deftige Flüche ausstoßen, aber trotz allem wacht Gott über sämtlichen Wettern und Menschen, hört alles, vergisst nichts und kassiert uns am Jüngsten Tag für jeden Gedanken, jedes Wort, jede Berührung, jeden Vorfall ab.
Von der Ankunft der Besucher scheint niemand aufgewacht zu sein; ein Klopfen an der Tür trägt nicht weit bei diesem Unwetter, das das Haus und den Himmel darüber zum Wackeln bringt. Schneeböen hageln auf das Dach ein, und die Menschen drinnen schlafen tief und fest, um das Wüten draußen auszublenden. Der Hund ist letzten Herbst an Altersschwäche eingegangen. Ich muss mir einen neuen Hund anschaffen, die verlassen einen nicht, die sterben bloß, denkt Kjartan und geht nach oben, um seine Frau zu wecken. Sie schlafen getrennt, zwischen ihnen springt schon lange kein Funke mehr über, das Leben hat das Feuer gelöscht, der zähe Alltag, das Leben so weit weg von der Welt und drei tot geborene Kinder. Das vierte hat überlebt, ein Junge, der mittlerweile in Kopenhagen studiert und sich mit jedem Brief weiter von seinem Vater entfernt. Kjartan fällt es also nicht ein, seine Frau mit einem Kuss zu wecken, dabei können Küsse doch wie Sommerblumen in die Tiefe des Schlafs hinabschweben, es wird dann alles gleich schöner und das Leben leichter. Er legt ihr bloß schwer die Hand auf die Schulter, rüttelt sie ein- oder zweimal und sagt: Es sind Leute gekommen. Sie sind schwer mitgenommen.
Mehr braucht er nicht zu sagen, die Frau schlägt die Augen auf. Sie heißt Anna und ist jetzt wach.
Sie hat einmal daran geglaubt, dass sie ein viel schöneres Leben führen würde. Damals war es schön, jung und mit Kjartan verheiratet zu sein, da gab es Kopenhagen, ein Studium, Reisen nach Paris und Berlin, Gespräche und Worte, die die Welt noch größer und die Sterne noch leuchtender machten. Nur wenige verstanden es, besser und schöner zu reden als er, wenige sprühten derart Funken; sie verbrachten Stunden zusammen, die noch immer strahlen, aber unter der Patina der Jahre doch sehr dunkel angelaufen sind. In Vík wollten sie sich nur vorübergehend niederlassen, ein paar Jahre am Rand der
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