Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
nur deshalb auf, damit er sie betrachten und über die großzügige Güte des Herrn staunen kann. Dabei leben sie hier seit fünfzehn schweren Jahren.
Das ist nicht nötig, sagt der Größere, vielen Dank! Wenn die Stute den Weg kennt, finden wir uns schon zurecht.
Wie heißt dieser Hof?, fragt der Kleinere, der seine Stimme wiedergefunden hat, obwohl sie noch ein wenig unsicher und von der Kälte angekratzt klingt.
Svörtustaðir, antwortet die Frau und lächelt, vielleicht weil sie dem Namen etwas von seiner Düsternis nehmen möchte.
Ein schöner Name, sagt der Junge, und alle schauen ihn verwundert an.
Schöner Name, dieser schwarze Hof?, fragt Jens spöttisch, als sie im Sturm weitergehen, geradewegs nach Norden, als wollten sie die Quelle des Winters finden und mit einem großen Stein verschließen. Das Pferd pflügt mit gespitzten Ohren durch die Schneewehen.
Ja, ich finde ihn schön, beharrt der Junge und schaut so konzentriert nach vorn, wie es der fallende und herumwirbelnde Schnee nur erlaubt.
Dann erreichen sie einen Friedhof. Den Bach, der gleich unterhalb daran vorbeifließt, haben sie überschritten, ohne es zu bemerken; so vieles verschwindet für uns unter Eis und Schnee, fast die ganze Welt eigentlich, und wem kommt schon der Gedanke, dass sich hier im Sommer ein verträumtes Flüsschen entlangschlängelt, mit grün bewachsenen Ufern und Odinshähnchen auf seinem Rücken, in der Luft kreischen dann Küstenseeschwalben, Forellen stehen in den Kolken, Moosbeeren dunkeln in der Sonne. Das Wohnhaus des Kirchhofs ist sehr stattlich, aus Holz, kein Erdhaus wie auf Svörtustaðir, es ragt groß über ihnen auf, das Dach verschwindet oben im Schneetreiben. Jens klopft an die Tür, und er klopft ungewollt laut, denn die Kälte frisst sich wieder an sein Herz heran, als sei ein Schutzwall plötzlich gebrochen. Er pocht also fest und freut sich an der Kraft, die ihm noch geblieben ist. Er klopft noch einmal, keine Reaktion. Vielleicht gibt es im Haus keinen Hund, der bellen könnte.
Mist, murmelt Jens und schwankt. Er legt einen Arm über das Pferd und schaut nicht einmal auf, als sich die Tür endlich öffnet, zögerlich und nicht einmal zur Hälfte. Ein Mann erscheint im Spalt, unwillig, die Tür ganz zu öffnen und so das Wetter ins Haus zu lassen.
Landpostbote Jens, sein Begleiter und sein Pferd, präsentiert Jens mit klangloser, flacher Stimme, ohne aufzusehen.
Und der Pastor, um ihn handelt es sich nämlich, Séra Kjartan, Kjartan der Franzose, erwidert: Das gefällt mir, der Briefträger samt Begleitung. Groß ist die Güte des Herrn!
VI
Wenn es um Leben und Tod geht, kann sich ein Mensch lange auf den Beinen halten; der Lebenswille ist fast unerschöpflich, und Jens hat sich den ganzen Weg über auf den Beinen gehalten, siebenhundert Höhenmeter hinauf in Eis und Schnee und bei stürmischem Wind dem dräuenden Himmel entgegen, dann wieder hinab, bei jedem Schritt ins Weiß einbrechend, das Pferd aus Senken zerrend, durstig wie eine Wüste, eigentlich schon erledigt nach der langen Postrunde durch die Täler, jene milde Gegend, in der sein Vater unter der Last der Zeit immer krummer wird und seine Schwester ein heller Sommertag ist. Wann kommt Jens, fragt sie dreißigmal am Tag, vierzigmal, und ihr Vater blickt gequält hinaus in das Unwetter, das schon größere Happen als einen einzelnen Briefträger verschluckt hat. Die ganze Zeit über stand Jens ungebrochen auf seinen Füßen, lediglich den letzten Kilometer hat er sich am Pferd abgestützt, nachdem die Kälte, der See im Innern seines Körpers, ihm auch das letzte Körnchen Kraft geraubt hatte. Aber sie haben es bis zu einem Haus geschafft. Sicher, es ist nicht das Ziel ihrer Reise, so großzügig ist das Leben nun doch nicht, aber sie haben einen Ort zum Ausruhen erreicht, und darum ist es nicht länger lebensnotwendig, sich aufrecht zu halten, es bedeutet nicht mehr den sicheren Tod, wenn er für einen Moment nachgibt.
Jens lässt das Pferd los, klopft es dankbar und geht auf das Haus zu, langsam, aber gerade, er tritt in Windstille und Wärme ein, und plötzlich ist es, als würde ihm jemand die Beine unter dem Leib wegschießen, Jens ist nur noch ein Haufen auf dem Boden. Verflucht, wo ist mein Anstand, denkt er. Der Junge ist ebenfalls ins Haus gekommen und kniet schon neben Jens, ehe Kjartan überhaupt begreift, was los ist. Er ist so glücklich und der Nacht dankbar gewesen, dass sie ihm Gesellschaft geschickt hat, und nun
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