Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
mildere Welt? Andererseits bildet der Schnee wieder größere Verwehungen, er wird auch weicher, sie müssen der Stute wieder die Taschen abschnallen, ihr einen Weg bahnen und sie hinter sich herziehen. Natürlich rückt die Nacht näher, natürlich rückt der Tod näher, dieses unsichtbare Wesen, das immer gegenwärtig und am Werk ist, das nichts liegen lässt und Erschöpfung, Kälte, Hoffnungslosigkeit und Resignation vorausschickt, vier brutale Hunde, die im undurchdringlichsten Sturm noch alles Lebendige aufspüren.
Es geht zügig abwärts, sagt Jens und ruht sich kurz aus, nachdem er die Stute wieder einmal aus einer Vertiefung gezogen und die Posttaschen an ihr befestigt hat. Dabei hat der Junge beobachtet, dass Jens’ Bewegungen steifer und kraftloser geworden sind. Die Graue atmet schwer, und Jens stützt sich manchmal wie unabsichtlich auf sie. Die Männer gehen weiter, das Gelände fällt nun zügig ab, das Pferd bestimmt die Richtung, jedes Bein des Jungen wiegt an die hundert Kilo, bald hundertfünfzig, und dann kann ich nicht mehr, denkt er. Aber wenig später taucht ein Haus auf. Sie haben es geschafft.
Fast.
Es ist nämlich nicht ihr Haus, nicht der Kirchhof Vík, Postsammelstelle und Logis des Landpostboten, mit Wasser, Heu für das Pferd und Zuflucht vor schlechtem Wetter.
Nein, nein, sagt der Bauer in der Tür noch verschlafen, weil es in den Siedlungen der Menschen Nacht ist. Sie aber kommen aus unbesiedelten Einöden, aus einem Schneesturm ohne Sicht, und da ist die Zeit nicht die gleiche. Der Bauer hat noch Schlaf in den Augen, sie nehmen letzte Reste von Bewegungen auf dem Grund seiner Augen wahr, wo seine Träume noch schimmern. Ihr Pochen an der Tür hat die Hunde geweckt, die bellend durch den dunklen Gang angeschossen kommen und die Leute drinnen wecken. In den Sturm hinaus trauen sich die Hunde nicht, aber sie wittern neugierig in Richtung der beiden Menschen und des Pferds, und weiter hinten im Dunkel des Gangs tauchen einige Gesichter auf, schließlich ist nächtliches Anklopfen ein Großereignis, das man nie verschlafen sollte.
Das hier ist nicht Vík, sagt der Bauer und muss fast grinsen, dass jemandem ein so dummer Gedanke kommen kann. Sehe ich etwa aus wie der Pastor?, setzt er hinzu und hat Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, so komisch findet er das, vollkommen abwegig, und jetzt sind die letzten Traumreste aus seinen Augen verschwunden, ist er ganz wach.
Die Männer und das Pferd zwischen ihnen scheinen aber nicht gerade besonders guter Laune zu sein, vielleicht hat der liebe Gott glattweg vergessen, sie mit Humor auszustatten. Sie sehen den Bauern nur schwermütig an, die Männer stehen mit gespreizten Beinen da, als hätten sie Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, weiß und bis zur Unkenntlichkeit mit Eis und Schnee bedeckt, obwohl der Bauer sie ohnehin nicht kennt. Er hat sie noch nie gesehen, das Pferd vielleicht; ja, jetzt erkennt er das Pferd wieder, dieses nachdenkliche Auge.
Das ist doch nicht etwa die Graue?, fragt er, und der größere der beiden Männer nickt. Ihr kommt also mit der Post. Aber wo habt ihr den Guðmundur versteckt?
Krank, sagt der Größere. Der Kleinere sagt gar nichts, beide starren sie den Bauern an, der, immer noch leicht grinsend, sagt: Da müsst ihr hin. Und er zeigt nach Norden, als würde er ihnen den Weg geradewegs in die Hölle weisen. Es sind bloß zwei Kilometer, setzt er hinzu. Die Graue kennt den Weg, sagt er, als die Männer keine Anstalten machen, sondern wie tot dastehen und ihn anstarren.
Ihr müsst Durst haben, sagt eine Stimme aus dem Gang, eine Stimme, die der Bauer besser als jede andere kennt, weil sie nämlich seiner Frau gehört, ohne die er bestenfalls ein mittelloser Landarbeiter wäre. Die Männer nehmen dankbar die Milch an, die sie ihnen hinausreicht, sie trinken gierig. Das Pferd blickt nicht einmal auf, vielleicht aus Bescheidenheit, um nur ja keine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass es ebenfalls durstig sein könnte.
Mein Jón kann euch begleiten, sagt die Frau. Ihr langes Haar leuchtet hell wie Sonnenschein, ihre Hände, die die Milch hinausgereicht haben, sind schmal und abgearbeitet, in dem vom Wetter gezeichneten Gesicht gehen von den Augen Falten aus wie Strahlen. Die Schwierigkeiten im Leben zwingen manche in die Knie, während andere durch sie nur schöner werden, und diese Frau ist so schön, dass der Junge sie ganz versonnen anschaut, und ihr Mann, der Jón, wacht in manchen hellen Mondnächten
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