Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
sich gegen den andrängenden Wind. Hat er wirklich den ganzen Weg bis hierher zurücklegen müssen, mit einem zu Tode erschreckten Mitruderer in einem winzigen Kahn über einen wütend aufgewühlten Fjord, dann über zwei Bergplateaus und schließlich hier in dichtem Schneetreiben mit einem gottlosen Gletscher dahinter verloren gehen, um endlich herauszufinden, dass er sich in Geirþrúðurs Haus eigentlich fast wohlgefühlt hat? Zumindest so wohl, dass es ihm jetzt fehlt. Eine ganz neue Erfahrung für ihn, etwas zu vermissen, das nicht auf ewig verloren ist. Diese neue Sehnsucht fühlt sich leichter an, es ist Licht darin. Sehnsucht aber wonach? Nach den Menschen, nach diesem komischen Dreigespann, nach der Sicherheit, nach den Möglichkeiten, die sich ihm in diesem Haus bieten? Sein ganzes Leben lang, seit sein Vater gestorben ist, ist er weggelaufen, er wusste nie, wohin, aber seine Träume handelten immer davon, wegzukommen. Darin lagen Hoffnung und Grund, sich aufrecht zu halten. Weg aus dem Fisch und der Plackerei, weg aus der Heuarbeit, weg von der ununterbrochenen, zermürbenden Mühsal des Alltags, dem ewigen Verschleiß, der die Menschen viel zu vorzeitig aufreibt, ihnen das Leuchten aus den Augen raubt, die Wärme aus den Berührungen. Wegkommen, ehe es zu spät ist. Gute drei Wochen hat er mittlerweile in einem Haus verbracht, in dem sämtliche Gesetze irgendwie auf den Kopf gestellt werden, und wenn er zurückkommt, soll seine Bildung in Angriff genommen werden – wenn er zurückkommt. Der Junge stemmt sich gegen den Wind, damit er möglichst still stehen bleiben kann, während er versucht, sich über alles Klarheit zu verschaffen, die letzten Wochen einmal zu überdenken, die Bücher, die er zu lesen bekam, die Gespräche, die befremdliche, in mancherlei Hinsicht geradezu gefährliche Unbekümmertheit, den ausländischen Kapitän, dem er am ersten Morgen im Haus begegnet ist, Geirþrúðurs Geliebten, Geirþrúður selbst in der Badewanne, nicht mehr jung, aber auch alles andere als alt, die Morgen mit Helga und Kolbeinn – drei Wochen eines neuen Lebens, und erst jetzt, durch eine Unmenge von Bergen von diesem Leben getrennt, verirrt in diesem schrecklichen Wetter und dem Tod vielleicht schon näher als dem Leben, erst in dieser Lage wird ihm bewusst, dass es ihm dort gut gegangen ist … jedenfalls fast. Es wird ihm in diesem Augenblick klar, in dem es wahrscheinlich zu spät ist, denn plötzlich erkennt er vor sich eine Bewegung, etwas Großes und Weißes kommt sehr schnell auf ihn zu, greift mit einer mächtigen Pranke nach ihm, sie schließt sich schwer um seine Schulter. Was bummelst du denn hier herum, sagt Jens heftig.
Versuche, mich in diesem Scheißleben zurechtzufinden, schreit der Junge zurück.
Man muss erst abkratzen, um sich damit auszukennen, antwortet Jens, schüttelt den Jungen, befiehlt ihm, ihm zu folgen, und dann befinden sie sich auf einmal in Sicherheit.
VII
Jens hat ein Haus für sie gefunden. Ein intaktes Haus mit Tür, Wänden und Dach, das macht einen unglaublichen Unterschied. Nur die Tür öffnen, eintreten oder hineinfallen, die Tür wieder schließen, und sie befinden sich in vollkommenem Schutz. Einen Orden denen, die dieses Haus hier gebaut haben und ihm sogar eine Tür einsetzten, um das Mistwetter auszusperren. Es tut unglaublich gut, einfach normal atmen zu können, die Luft nicht verstohlen einzusaugen, um keinen Schnee in die Atemwege zu bekommen; wunderbar, die eigenen Atemzüge zu hören. Jens steht aufrecht, der Junge liegt auf den Knien, natürlich war er es, der mal wieder gestolpert ist. Das Haus ist nicht groß, gerade groß genug, um die zwanzig Schafe zu beherbergen, die verängstigt zu den beiden Menschen hinschielen, die sich Eis und Schnee abklopfen und keinen Blick für die Tiere haben, als hätten sie die vierzig Augen noch gar nicht bemerkt. Die Schafe sind so erschrocken, dass sie nicht einmal blöken. Kein Mensch kommt je hierher, außer natürlich die Leute vom nächsten Hof, diese paar Vogelscheuchen, die die Schafe so gut kennen wie ihre eigene Nase. Dagegen sind zwei unbekannte Menschen wirklich eine Sensation. Angst und Neugier leuchten aus vierzig glotzenden Augen, bis eins der Schafe einfach nicht mehr an sich halten kann, das Maul öffnet und losblökt. Es ist eigentlich nur ein einziges Mäh, wie ein Aufschrei, aber danach müssen die übrigen natürlich das Gleiche tun. Nur Sekunden später herrscht ein ohrenbetäubender Lärm,
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