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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Schnee krepieren?
    Dann ist es so weit: Der Boden unter ihren Füßen wird abschüssig. Bei vernünftigem Wetter hätten sie bald einen Blick über die Ansiedlung unten, acht bis zehn kleine Gehöfte, die sich am Ufer des Dumbsfjörður aufreihen und fünfzig, sechzig, siebzig Menschenleben beherbergen, die kommen und gehen, gehen und kommen; auf der anderen Seite würden sie weitere Fjorde ins Land einschneiden sehen, uralte, tiefe Wunden, an ihrem Ende jeweils kurze Täler, dann Hänge, oben Heiden und noch mehr Heiden mit bleichenden Schafsknochen, verunglückten Menschen, träumenden Seen und lieblichen Höckerwiesen. Auf den grasigen Flecken dort drüben könnten sie einzelne Höfe ausmachen, manche mit drohenden Felswänden über sich, obwohl sie so nah am Wasser stehen, wie es überhaupt möglich ist. Die Abstände von Hof zu Hof sind beträchtlich, eine Landverbindung zwischen ihnen besteht nur selten, außer im Hochsommer, und dann sind die Menschen in der Regel dermaßen mit Arbeit überhäuft, dass sie sowieso nicht wegkönnen, sie müssen jeden Halm als Futter für das Vieh bergen, zum Fischen hinaus aufs Meer, und sie ertrinken, wenn ihnen jemand den Faden abschneidet. Jens schüttelt ab und zu die rechte Hand, als würde sie absterben.
    Könnte es passieren, dass wir abstürzen, ruft der Junge und macht sich zu Recht Gedanken über eine mögliche Felskante vor ihnen.
    Wir finden es heraus, wenn es so weit ist, ruft Jens zurück, es sind seit langer Zeit die ersten Worte, seit er durch den Tod stieß, um dem Jungen aufzuhelfen, die erste Kontaktaufnahme, nach dem Muster: besorgte Frage, beschwichtigende Antwort, isländischer Umgang miteinander in nuce , alle sind wir unfähig, anderen unsere Gefühle offenzulegen – komm meinem Herzen bloß nicht zu nah!
    Die beiden stapfen weiter, abwärts.
    Lassen die Gefahren des Berges hinter sich, kommen dem Tod des Meeres näher.
    Obwohl sie in tiefere Lagen kommen, lässt der Wind kaum nach, der Schnee aber wird weicher und anstrengender. Jens scheint den Weg zu kennen, aber so schwierig ist das auch nicht, solange der kräftige Wind sie schräg von hinten trifft, gehen sie in die richtige Richtung. Aber ist hier überhaupt ein Weg? Der Junge ruft, bekommt aber keine weitere Antwort, er ruft Jens etwas zu, doch der hat sich anscheinend die Ohren verstopft und mehr Tempo aufgenommen, so sehr sich der Junge auch beeilt, der Abstand zwischen ihnen wird nicht kleiner, mindestens fünfzehn, zwanzig Meter liegen zwischen ihnen, und es werden mehr. Hatten sie nicht auf einem der Höfe ein Boot nehmen und jemanden anheuern wollen, der sie über den Dumbsfjörður rudern sollte? Bei so einem Wetter tat das natürlich niemand gern, das Meer zickig und keine Sicht, aber Jens bezahlt mit Bargeld, und viele hier haben lange gelebt, ohne eine bare Münze zu sehen, geschweige denn zu besitzen. Im schlimmsten Fall müssten sie irgendwo übernachten, das Schlimmste aussitzen, nur mittlerweile entfernen sie sich mit jedem Schritt vom Langafjörður und verlängern damit die Bootsüberfahrt. Es war kein guter Entschluss, Vík zu verlassen, es ist dumm, so an den Höfen hier vorbeizumarschieren, das Einzige, dem sie auf diese Weise näher kommen, ist der Gletscher, der über allem hier in der Landschaft thront. Hinter Schnee und Sturm wartet er auf sie, ragt in die Höhe und füllt den halben Himmel aus. Wer ihm zu nahe kommt, der verliert Gott, und vielleicht ist es genau das, worauf Jens aus ist, Gott zu verlieren, oder warum rennt er so los, sinkt in Bodenwellen ein, befreit sich daraus, verschwindet dem Jungen aus den Augen, taucht wieder auf, der Junge, mittlerweile schweißüberströmt vor Anstrengung, fällt plötzlich selbst in so ein Loch. Als er herauskrabbelt, ist Jens verschwunden.
    Na prima.
    Das war ja abzusehen.
    Bestens.
    Hoffentlich ist er irgendwo verschüttet, und der Teufel holt bei Gelegenheit seinen Kadaver ab. Der Junge späht um sich, sieht aber vor fallendem und stiebendem Schnee und Erschöpfung so gut wie nichts. Er könnte direkt neben einem Haus stehen und würde es nicht bemerken. Ich gehe einfach weiter und versuche, ein Haus zu finden, bevor es dunkel wird, denkt er und spürt mittlerweile deutlich, wie hungrig er ist. Wie schön wäre es, jetzt zu Helga in die Küche zu gehen. Und da, ganz plötzlich, so überfallartig, dass es fast wie ein Schock kommt, fühlt er, dass er etwas vermisst, sehr sogar. Er muss anhalten, bleibt reglos stehen, lehnt

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