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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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der Weg beschwerlicher wird, wäre es ganz angenehm, die Tasche loszuwerden. Er schaut vor sich auf den Boden und versucht, etwas Wichtiges, etwas Großes zu denken, um sich so von der Mühsal abzulenken, um den Geist den Körper regieren zu lassen und nicht umgekehrt. Du bist anders, hat Kjartan gesagt und es als Lob gemeint. Wenn das stimmt, sollte er dann nicht etwas Besonderes denken können, etwas Großes, und sollte er es nicht als etwas Zusammenhängendes denken können, ohne es durch mangelnde Konzentration immer wieder zu zerstückeln? Er fängt damit an, über Dichtung nachzudenken, und es lässt sich gut an, aber dann denkt er nur noch an Ragnheiður, ausschließlich an Ragnheiður. Die Wärme, die er gespürt hat, als sie ihm im Hotel so nahe kam, diese Mischung aus Wärme, Härte und Weichheit, die es nirgendwo sonst gibt als in einem menschlichen Körper, das Schönste und Brisanteste auf dieser Welt:
     
Presse dich an mich, und es ist nicht mehr kalt.
Presse dich an mich, und die Einsamkeit schwindet.
Presse dich an mich, und alles wird schön.
Presse dich an mich, und ich verliere die Angst vor
dem Tod.
Presse dich an mich, und ich werde alles verraten.
    Es geht nicht länger aufwärts, sie haben die Höhe des Plateaus erreicht; von dort sind es noch etwa fünf Kilometer bis hinab in bewohntes Gebiet. Sie müssen nur noch geradeaus gehen, obwohl der Junge sich fragt, wie Jens in diesem dichten Schneefall den Kurs hält, aber ernste Gefahr droht ihnen nicht, solange kein Sturm aufkommt. Es gibt hier keine Vögel, keinen Fuchs, wohl kaum eine Maus, nur sie beide, den Schnee und möglicherweise einen toten Bauern mit einem Jungen in seinen Armen. Er hatte sie um den Jungen gelegt, den jungen, eiskalten Körper fest an sich gedrückt und immer wieder gemurmelt: Verzeih mir, verzeih mir, und versucht, ihn fest genug in den Armen zu halten, aber dann waren sie beide gestorben, weit weg von ihren Angehörigen. Es ist sehr kalt, zu sterben, sagt der Bauer, der plötzlich neben dem Jungen geht, der andere Junge geht schweigend an der Seite des Bauern. Sie laufen leichtfüßig über den Schnee, hinterlassen keine Abdrücke. Es war meine Schuld, sagt der Bauer noch, während sie sich auflösen.
    Und natürlich fängt es an zu wehen.
    Es war nur eine vorübergehende Flaute, um sie noch weiter auf die Heide zu locken. Es fängt mit einem leichten Windstoß an, der – sich noch fast entschuldigend – säuselt: Nein, nein, wir haben nichts Böses vor. Geht nur weiter, es passiert euch nichts, kümmert euch gar nicht um uns. Die Böen bewegen die Schneeflocken wie in einem langsamen Tanz, der allmählich reger wird, schneller, wilder, und dann können sie schon nicht mehr unterscheiden, welcher Schnee von oben fällt und welcher von unten aufgewirbelt wird.
    Das kennen wir doch nur zu gut, verflucht noch mal, schimpft der Junge, doch Jens stapft weiter, nicht müde zu kriegen, blickt sich nicht einmal um, schon beträgt der Abstand zwischen ihnen zehn bis fünfzehn Meter, und er vergrößert sich noch.
    Das ist nicht nett von ihm, murmelt der Junge und fühlt, wie Angst in ihm aufkommt, aber er ist zu stolz, um zu rufen, er versucht stattdessen, schneller zu gehen, aber da fällt er, als habe ihm jemand ein Bein gestellt; er liegt im Schnee, schaut auf und sieht Jens im oder besser hinter dem Sturm verschwinden. Dafür sind der Bauer und der andere Junge wieder bei ihm. Sie stehen über ihm, ihre vereisten Augen blicken auf ihn hinab.
    Drei sind schon viel besser als zwei, sagt der Bauer.
    Ich habe nicht vor, hier zu verrecken, Teufel noch mal, faucht der Junge in den Schnee und versucht aufzustehen, ohne die beiden anderen zu berühren, was nicht leicht ist, sie stehen ganz dicht neben ihm. Tote werden von der Wärme des Lebens angezogen. Der Bauer ist ihm so nah auf die Pelle gerückt, wie es nur geht, sein rechter Arm hängt ihm schlaff an der Seite herab, vorn an der Spitze scheint ihm ein Stück zu fehlen, der linke Arm aber dringt in den Jungen ein und windet sich voran wie eine blinde Schlange auf dem Weg zu einem lebenden Herzen.
    So schlimm sind wir gar nicht, sagt er und sucht. Und bei gutem Wetter ist die Heide wirklich schön.
    Ich muss am Leben bleiben, ächzt der Junge und versucht verzweifelt, sich diesem kalten, toten Arm zu entwinden.
    Was soll das denn?, knurrt Jens, der seine Faust durch den Brustkorb des Bauern rammt. Wirst du wohl endlich meine Hand nehmen, oder willst du unbedingt hier im

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