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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Boot muss nicht unbedingt schlimm sein, sagt der Junge vorsichtig. Wir finden ein größeres Boot und warten, bis sich der Sturm legt. Hier gibt es auf jedem Hof ein Boot.
    Das Meer ist überflüssig, sagt Jens. Wir sind Landtiere.
    Na gut, erklärt der Junge, dann lassen wir das mit dem Meer.
    Jens: Wer ist wir?
    Der Junge: Na, wir beide.
    Darauf Jens: Du bis einer, und ich bin einer. Da gibt es kein Wir. Ich gehe jetzt, du musst deinen Hof allein finden, man kann nicht mit einem Menschen zusammenbleiben, der dermaßen viel redet.
    Die Schafe und der Bock beobachten sie, atmen hastig, Atemfahnen stehen vor ihren Mäulern.
    Ich komme dir nach, sagt der Junge ebenso überraschend wie unsinnig, denn was spricht schon dafür, einem aus Angst vor dem Meer vermutlich irre gewordenen Postboten in diesem Wetter nachzulaufen, von Fjord zu Fjord hinter ihm herzugehen, Hochheiden und Pässe zu überwinden und Dutzende von Kilometern von einem Bauernhof zum nächsten zurückzulegen? Genau genommen gar nichts, vielmehr spricht fast alles dagegen. Aber manche Menschen treffen Entscheidungen über Leben und Tod, ohne nachzudenken. Vernünftig ist das nicht, aber wie heißt es so schön: Unkraut vergeht nicht. Vernunft kann nachteilig sein für das Leben, sie kann es leicht ersticken.
    Jens erwidert nichts, sodass der Junge fortfährt: Ich werde dir nicht zur Last fallen, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich die ganze Zeit meinen Mund halte. Man unterhält sich ja auch so gut mit dir.
    Da passiert es.
    Jens lacht.
    Natürlich weder laut noch anhaltend, aber er lacht, ein ungezwungenes, von wenig Übung leicht eingerostetes Lachen, alle Schafe stellen das Wiederkäuen ein. Wenig später spreizen an die fünf von ihnen die Hinterbeine und pinkeln. Die Männer sehen sie an und pinkeln dann auch. Es ist ganz etwas anderes, das in einem Gebäude zu verrichten und nicht bei schlechtem Wetter im Freien, gebückt, sich selbst vollzupinkeln, schlotternd vor Kälte, die übrigens sehr schnell durch jeden unversehens geöffneten Spalt eindringt. Zwei Männer, die nebeneinander stehen und pinkeln, empfinden manchmal so etwas wie Zusammengehörigkeit, ganz schnell haben sie etwas gemeinsam und sagen dann vielleicht etwas, was sie sonst nie laut ausgesprochen hätten.
    So sagt Jens: Ich muss nachdenken.
    Du musst nachdenken?, wiederholt der Junge.
    Jens: Das geht am besten, wenn man unterwegs ist, beim Gehen.
    Der Junge: Manche sitzen beim Denken am liebsten.
    Jens: Daran glaube ich nicht so richtig, das ist irgendwie unnatürlich. Das einzig Gescheite ist, dass man geht, und zwar am besten mehrere Tage hintereinander.
    Und warum musst du nachdenken?, erkundigt sich der Junge, aber da sind sie fertig, der schwache Uringeruch verfliegt und mit ihm die Verbundenheit.
    Das geht nur mich etwas an, sagt Jens und schüttelt die letzten Tropfen ab.
    Das ist natürlich richtig, räumt der Junge ein und erklärt dann, er selbst müsse auch nachdenken. Ich weiß nämlich nicht, wozu ich lebe.
    Jens wirft ihm einen Seitenblick zu, schüttelt leicht den Kopf, nimmt sich etwas von ihrem Mundvorrat, reicht ihn an den Jungen weiter, rückt die Taschen zurecht und will aufbrechen.
    Warte einen Moment, bittet ihn der Junge und steigt in den Pferch zu den Schafen, die sich panisch in einer Ecke zusammendrängen.
    Was willst du denn da?, fragt Jens ungeduldig, aber der Junge gibt keine Antwort, öffnet das Gatter, das den Hammel in Einzelhaft hält, packt ihn bei den Hörnern und zieht ihn zu den Schafen. Eins von ihnen treibt er an seine Stelle, schließt das Gatter wieder, kehrt mit zufriedenem Gesicht zu Jens zurück und grinst leise vor sich hin, als er den Bock mit tödlich beleidigter Miene belämmert mitten unter den Schafen stehen sieht.
    Wozu soll das denn gut sein?, fragt Jens, die Hand schon auf dem Türgriff.
    Staunen ist gesund, antwortet der Junge.
    Sie treten hinaus, und der Sturm reißt sie mit sich fort.
    Zwei nachdenkliche Männer unterwegs in solchem Wetter, das ist gar nicht so wenig, wenn man bedenkt, dass man seine gesamte Energie aufwenden muss, um überhaupt vorwärtszukommen, ohne auf dem Weg von Punkt A nach Punkt B auf der Strecke zu bleiben. Darüber hinaus auch noch nachzudenken und sich im Leben zurechtzufinden, erscheint fast als Stoff für einen großen Roman. Jens und der Junge kämpfen sich vorwärts, zwei Menschen auf der Suche nach sich selbst. Werden sie Gold oder bloß taubes Gestein finden? Zunächst halten sie sich

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