Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
nicht zu denken war. Sie haben sich stundenlang mit dem Sarg vorangekämpft, es waren zähe und mit allen Wassern gewaschene Männer, aber trotzdem kam der Punkt, an dem sie aufgeben mussten, es ging nicht mehr vor und nicht zurück. Sie fanden es aber pietätlos, den armen Kerl da oben auf dem Gletscher liegen zu lassen, deswegen säbelten sie ihm den Kopf ab, ließen den Körper zurück und marschierten weiter, denn wie jeder weiß, sitzt die Seele im Kopf. Nach zwei Tagen kamen sie völlig am Ende und in Eis und Schnee gepackt bei uns unten in Vík an. Hier ist der alte Einar, sagten sie und drückten Séra Kjartan den Schädel in die Hand. Das war ein Anblick, den man nicht wieder vergisst, das kann ich euch sagen. Aber so war das damals, und jetzt könnt ihr euch ein bisschen besser ausmalen, was euch bevorsteht, Männer. Haltet nur immer genau diese Richtung ein und weicht bloß nirgends von ihr ab. An guten Tagen braucht man kaum zwei Stunden über die Heide und wieder hinab zu den Höfen dahinter, na ja, sagen wir drei, im Sommer, wenn man unterwegs Beeren futtert und den Vögeln zuhört, aber die guten Tage scheinen immer weniger zu werden in dieser Welt; ihr versteht, was ich meine. Gott sei mit euch, Männer!
Die Hochheide vor ihnen ist lang, liegt aber nicht so hoch wie die, der sie am Vortag entkommen sind. Sie ist vom Himmelsblau weiter entfernt, die Fläche wirkt irdischer und scheint für Menschen nicht so gefährlich, sie kommen der Nacht nicht so nah. Sommers ist es eine hübsche Heide, an manchen Stellen trägt sie eine geschlossene Vegetationsdecke und schmiegt sich grün zwischen die düster dreinblickenden Berge. Darum trägt sie auch den Namen Grænaheiði, die grüne Heide. Mindestens fünfzig Jahre ist es her, seit hier zuletzt Menschen umgekommen sind, ein Bauer und sein halbwüchsiger Sohn. Sie waren bei unsicherem Wetter aufgestiegen, hat Kjartan dem Jungen in der Nacht erzählt, und wurden Tage später in einer Schneewehe gefunden. Der Bauer hielt den Jungen fest in seinen Armen, vielleicht aus schlechtem Gewissen, denn er hatte den Jungen mitgenommen, obwohl die Mutter ihn angefleht hatte, ihn bei diesem Wetter nicht mit auf die Heide zu nehmen. Für sie, für Jens und den Jungen, sollte es allerdings halbwegs ungefährlich sein, für Jens zumindest, so erfahren wie der ist, hat er doch bei viel schlechterem Wetter schon weitaus gefährlichere Hochebenen überquert als diese und ist immer heil durchgekommen, vielleicht nicht unbedingt aufgrund eines unfehlbaren Orientierungssinns, der bei ihm eher so mittelprächtig ausgebildet ist, aber wegen seiner Stärke, seiner Ausdauer und seiner Sturheit.
Das Gelände steigt allmählich an, der Schnee fällt dichter, ab und zu sehen sie von den Bergen so etwas wie einen dunklen Schatten. Der Untergrund ist ganz passabel, leidlich begehbar, sie brechen nur selten tief ein. Der Junge rückt die Posttasche zurecht, die fast ganz gefüllt ist mit Briefen und Zeitungen, Ísafold, Þjóðólfur , Blättern, die mit jedem ihrer Schritte veralten. Er wird noch nicht müde, nicht spürbar jedenfalls, aber er fühlt doch eine gewisse Schwerfälligkeit, vielleicht weil er zu wenig geschlafen hat. Der Schnee fällt dicht, bildet einen zusammenhängenden Vorhang vom Himmel bis zur Erde, er verbindet Luft und Erde miteinander, sodass man keinen Unterschied mehr sieht, alles geht ineinander über, und sie dürfen sich darauf gefasst machen, ein paar herumfliegenden Engeln in der Ewigkeit zu begegnen. Die Zeit um sie vergeht, Sekunden, Minuten und dann Stunden. Die Beine bewegen sich aus alter Gewohnheit, können gar nicht anders, anderes fällt ihnen gar nicht ein, sie begegnen einander bei jedem Schritt. Ach, du auch hier, sagt das linke zum rechten und freut sich über die Gesellschaft.
Jens geht voran.
Das ergibt sich ganz von allein so, der Stärkere geht vorneweg und bahnt die Spur, die bald wieder zuschneit, nach ein paar Minuten schon sieht es wieder aus, als sei hier nie jemand vorbeigekommen. Jens trägt die schwerere Tasche, spürt sie aber kaum. Er wollte auch die zweite schultern, aber das hat der Junge nicht zugelassen.
Ich übernehme sie, sobald du müde wirst, hat Jens leichthin und gelassen gesagt. Es war eine Feststellung, so würde es sein, doch der Junge hat still in sich hineingeflucht und leise geschimpft: Pass auf, dass es nicht andersherum kommt. Ein großes Wort, ein zu großes, größer als er, und jetzt, wo es höher hinaufgeht und
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