Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
zwanzig Schafe, die blöken und mähen, als stünde der Weltuntergang bevor; sie recken die Hälse, meckern und schreien und übertönen selbst den Sturm. Sie drängen sich, so weit es geht, im hintersten Winkel zusammen, doch hinter ihnen, für sich allein eingepfercht in seiner Einsamkeit und lebenslangen Miesepetrigkeit, steht ein großer Hammel, verstockt wie ein Stein, der zunächst nicht das geringste Interesse für die Schafe und für diesen Besuch zeigt, den ihm der Sturm hereingeweht hat, aber letztlich steckt ihn die Hysterie der Schafe doch an, er öffnet das große Maul und legt los, erst leise und nur für sich, doch bald verliert er alle Beherrschung, und sein tiefes, unsauberes, missmutiges Blöken übertönt den schrillen, nervösen Chor. Da tritt Jens einen Schritt auf die Versammlung zu, sagt grob und schneidend: Ruhe im Stall! Und mehr braucht es nicht. Sie verstummen schlagartig, auch der Hammel, sein Unterkiefer fällt herab, vor Angst bleibt ihm das Maul offen stehen, seine massigen Hörner werden mit einem Mal betrüblich schwer, es ist eben nie gut, allein zu sein, selbst wenn du große Hörner hast. Friedliche Stille breitet sich im Stall aus, bis auf ein vereinzeltes, ängstliches Bäh, das einem der Schafe noch ganz unversehens entfährt, ansonsten vollkommene Stille; so mächtig können Worte wirken, wenn man sie entsprechend anbringt. Der Wind schert sich natürlich keinen Deut um die Worte, die im Gebäude fallen, er tost weiter. Zwanzig Schafe und ein Bock starren wie gebannt auf Jens. Der Junge mustert die Herde, sagt: Ja, leck mich, und lässt sich auf einen Haufen kümmerlicher Halme fallen, wo er die nächsten zehn Jahre oder länger liegen bleiben will.
Müde nach der durchwachten Nacht mit Kjartan, dem anstrengenden Marsch und überhaupt den Strapazen der vergangenen beiden Tage, wäre er schnell eingeschlafen, wenn Jens nicht, nachdem er Mütze und Handschuhe auf einen Stein gelegt hat, angefangen hätte, auf dem bisschen Platz, den es gab, mit finsterem Gesicht auf und ab zu stapfen. Was weiß er denn überhaupt von diesem Jens? Er tut so, als würde er schlafen, hält die Augen aber einen Spaltweit geöffnet und beobachtet, wie der groß gewachsene Briefträger hin und her läuft, er bekommt es ein wenig mit der Angst, als er sieht, wie sich die großen Fäuste ballen, groß wie Kinderköpfe, auch die Schafe lassen kein Auge von dem Postboten, nur der Bock senkt den Blick und denkt: Jetzt täte es gut, jemanden auf die Hörner zu nehmen. Dann mähen die Schafe. Weniges wirkt so beruhigend im Leben wie einem Schaf beim Blöken zuzusehen. Der Junge tut es, lässt dann die Augen zufallen und fängt an, etwas zu summen, ganz leise zunächst, fast unhörbar, aus dem Etwas wird bald eine zauberhafte, leicht melancholische Melodie, dann das Signal zum Aufbruch, das Benedikt in der letzten Nacht aller Nächte auf dieser Erde gespielt hat, worauf sie die Boote den Strand hinab ins Wasser gestoßen haben und losgerudert sind, Bárðurs Tod entgegen. Andrea stand am Ufer und sah ihnen nach. Was tut sie wohl in diesem Augenblick, und wo ist Bárður? Wohin gehen die Toten, kann man dorthin gelangen, erwartet uns ein neuer Tag nach allen Stürmen, nach dem Leben, nach dem Tod? Ein neuer Tagesanbruch, ein glühend leuchtender Horizont und eine brüchige Melodie, um den sehnsüchtigen Schmerz nach Leben zu stillen? Er schläft jetzt langsam ein, und es ist wie in warmes Wasser zu sinken, stillstehendes Wasser, aber da tritt ihm jemand gegen sein rechtes Bein, der Schleier des Schlafs zerreißt, er findet sich in einem halbdunklen Schafstall wieder, draußen heult der Wind, Jens steht mit geballten Fäusten über ihm.
Was ist los?, murmelt der Junge schlaftrunken, aber Jens beugt sich über ihn, reißt ihn hoch, als wäre er eine Feder, zerrt ihn so dicht an sich heran, dass der Junge die Kälte aus seinem vereisten Bart spürt und die kleinen Äderchen auf der großen Nase sieht und direkt in seine wütenden grauen Augen blickt. Er lässt die Arme schlaff an den Seiten baumeln, etwas anderes traut er sich gar nicht, denn dieser Postbote ist nun offensichtlich durchgedreht, und die Schafe schauen zu, haben das Mähen eingestellt.
Was treibst du hier eigentlich?, fragt Jens leise, aber drohend.
Ich schlafe, bin einfach so weggenickt, antwortet der Junge.
Jens packt ihn fester. Das meine ich nicht. Bist du so blöd, oder glaubst du vielleicht, ich wäre so blöd?
Ich weiß nicht …, ich
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