Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
erreichte der Mann damit, wie rote Pfeile zeigten die fettigen Striemen auf die haarlosen Flächen des massigen Schädels. Eine schwarze eckige Brille verunstaltete sein Gesicht, das von einer nach oben gebogenen Nase vollends zur Karikatur gemacht wurde.
»Maximilian Rebenpfeil«, sagte der Mann mit einer Stimme, die sich hinter einer Folie zu verstecken schien, und neigte seinen Kopf ein wenig. »Ich bin Notar und Rechtsanwalt und binermächtigt, Ihnen das Testament Ihrer verstorbenen Mutter auszuhändigen.«
Lars wurde wütend. »Was für einen Unsinn reden Sie da? Meine Mutter ist nicht tot. Sie ist eine Geisel. Man will mich weich kochen, will verhindern, dass ich meinen Auftrag zu Ende führen kann.«
Der Mann mit dem seltsamen Namen sah ihn mitleidig an. »Sie wollen es nicht wahrhaben, das kann ich nur zu gut verstehen. Könnte ich Sie von der Wahrheit meiner Worte dadurch überzeugen, dass Sie sich den Leichnam Ihrer Mutter ansehen? Ich habe ein Foto dabei.«
Lars konnte es nicht verhindern. Sein Herz schmerzte. Er hasste dieses Gefühl, dem er hilflos ausgeliefert war. Immer, wenn ihn dieser Schmerz überkam, überfielen ihn auch die Erinnerungen: wie sein Vater auf Mutter lag, er zuckte wie ein Spastiker und stöhnte; wie sein Vater mit einer Flasche über Mutter hergefallen war; wie sein Vater die Kellertreppe hinunterstürzte und sich nicht mehr bewegte; wie der Pfarrer ihn anblickte und seinen Kopf nur einen Millimeter nach vorne bewegte; wie der Polizist sagte, dass sie schon lange damit gerechnet hatten, dass er im Rausch die Treppe hinunterstürzen würde.
Rebenpfeil griff in seine Aktentasche und hielt eine Fotografie hoch. »Sie ist ganz friedlich eingeschlafen, sie hatte keine Schmerzen, und wie Sie sehen, lächelt sie sogar ein wenig. Man hat mir gesagt, dass Sie Ihre Mutter gepflegt haben. Dafür möchte ich Ihnen meinen Respekt aussprechen.«
Lars warf nur einen kurzen Blick darauf, ja es war seine Mutter, und er musste zugeben, dass es eine sehr gute Fälschung war. Sie sah aus wie tot, sah aus, als sei sie friedlich eingeschlafen. Er hatte nichts anderes erwartet. Seine Feinde waren mächtig, und ihnen war jedes Mittel recht, ihn zu verwirren. Ein Foto zu fälschen war kein Problem.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich auf dieses plumpe Machwerk hereinfalle?«
Rebenpfeil hob die Augenbrauen. »Wie bitte?«
»Das Foto ist eine Fälschung, was sonst?!«
»Soll ich einen Arzt rufen, Herr Rüttgen?«
Nur mit Mühe gelang es Lars, seinen Kopf ein wenig von rechts nach links zu bewegen und damit zu signalisieren, dass er niemanden brauchte. Er wollte Rebenpfeil entgegenschleudern, dass er ein Christenknecht sei, aber er fühlte sich immer noch, als sei er verprügelt worden. Wahrscheinlich hatten sie ihn wieder sediert, ihn mit der chemischen Keule kampfunfähig gemacht. Er lächelte, Rebenpfeil stand die Verwunderung über seine Stimmungsänderung ins Gesicht geschrieben. »Ist doch egal, was ich glaube. Können Sie mir das …«, er zögerte, musste sich überwinden, das Wort auszusprechen, »das Testament vorlesen?« Er vermied zu sagen: »Das Testament meiner Mutter.«
»Sie möchten also, dass ich Ihnen das Testament Ihrer Mutter vorlese.«
Lars nickte. Genau das hatte er gesagt. Was gab es daran misszuverstehen?
Der Anwalt zeigte keine Regung und zog einige Blätter aus der Aktentasche, die abgetragen aussah, das fiel Lars erst jetzt auf. Wie oft mochte Rebenpfeil schon irgendwelche Papiere oder Fotos aus dieser Tasche gezogen haben?
»Sind Sie bereit?«, fragte Rebenpfeil.
Lars verzichtete auf eine Erwiderung.
»Ich, Ruth Rüttgen, geborene Lohmann, verfüge hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass mein Sohn Lars Rüttgen mein Alleinerbe sein soll.« Rebenpfeil hielt inne, legte die Blätter auf den Medikamententisch und putzte seine Brille. Dann fuhr er fort. »Mein lieber, lieber Sohn. Ich habe dir nichtviel zu vermachen. Da ist noch ein Sparbuch, das liegt im Besenschrank, unter der Truhe mit den Schuhputzsachen. Ich glaube, da sind noch ein paar Hundert Euro drauf. Das ist alles, was ich habe.«
Lars schloss kurz die Augen. Die Bullen hatten gründlich gearbeitet, die Wohnung auf den Kopf gestellt und alles gefunden. Fast alles. Und jetzt glaubten sie, ihn mit »Insiderwissen« bluffen zu können.
»Aber ich habe noch etwas, das viel wichtiger ist als Geld. Die Wahrheit. Im Leben war ich zu feige, und jetzt, da ich tot bin, sollst du erfahren, wer
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