Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
und unterdrücktes Gähnen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
»Feierabend«, rief sie. »Wir drehen uns nur noch im Kreis. Morgen um acht geht es weiter. Dann sind wir ausgeruht, dann können wir wieder geradeausdenken.«
Alle nickten, packten ihre Sachen und machten sich auf den Weg.
Albi wartete, bis Fran die Rechner runtergefahren und das Licht gelöscht hatte. Sie war einen Moment versucht, ihn zufragen, ob er nicht bei ihr schlafen wolle. Aber das wäre ein Fehler gewesen; Albi als Leibwächter zu missbrauchen war der falsche Weg. Er nahm sich ein Taxi in den Hafen. Sie verabschiedeten sich wortlos mit einem Händedruck.
Fran sah ihm hinterher und wünschte sich einerseits, bei ihm zu sein, wünschte sich im selben Moment aber auch, alleine zu sein. Letzteres zumindest konnte sie haben. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad, ließ sich Zeit, genoss die warme Nacht, ließ die Gedanken schweifen, die sich schnell selbstständig machten und sie von einer Klippe zur nächsten führten: Der Konflikt mit ihrem Vater. Ungelöst, heiß, brennend. Der Krieg, den sie mit ihrem Ex vom Zaun gebrochen hatte. Ungelöst, gefährlich, drohend. Ihre Mutter, die sie am liebsten aus diesem verfluchten Haus herausgeholt hätte. Nicht lösbar, zermürbend, endlos. Sie liebte ihre Mutter, und sie schämte sich dafür, ihren Geburtstag so verschandelt zu haben, sie schämte sich, dass sie sich immer noch nicht bei ihr entschuldigt hatte, dass sie sich bis heute nicht bei ihr gemeldet hatte. Und Anne? Ihre kleine naive Schwester, die ihr Fähnchen nach dem Wind hing, die Männer verschliss wie ein Formel-Eins-Rennwagen die Reifen. War Anne glücklich? Und Albi? Sie wünschte sich seine Nähe. Sie wollte ihn kennenlernen. Er war ein Kandidat. All das verursachte ihr Kopfschmerzen, aber da war noch etwas. Etwas, dass ihren Magen angriff. Normalerweise dachte sie nicht schwarz-weiß, aber dieser Mann, der sie am Unterbacher See beobachtet hatte, war für sie ein schwarzer Schatten, eine Untiefe, aus der jederzeit ein Monster auftauchen konnte, um sie zu fressen. Ihr Hals verengte sich, sie trat fester in die Pedale, sie musste schneller sein, schneller als das Monster aus der Tiefe, sie stemmte sich hoch, trat die Pedale, als seien sie ihre Feinde, die Ampel am Südring sprang auf Rot, von links sah sie einen Sportwagen, sie musste es schaffen, legte zu, ihreBeine schmerzten, und jetzt fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte: Sie fuhr ohne Licht, die Scheinwerfer des Sportwagens wuchsen zu kleinen Sonnen heran, die Hupe gellte in ihren Ohren, Reifen quietschten, der Sportwagen stellte sich quer, sie raste weiter, hörte das ärgerliche Hupen und malte sich aus, was Günther wohl sagen würde, wenn er wüsste, wie sie mit ihren Ängsten umging. Nach ein paar hundert Metern zog sie die Bremsen und hielt an. Sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, der sich mit ein paar Tränen gemischt hatte. »Das reicht«, sagte sie zu ihrem Fahrrad, zitterte am ganzen Leib, benutzte den Fahrradweg.
Ihr Haus kam in Sicht, sofort meldete sich ihre Angst wieder. Sie stieg ab, beobachtete zwei Minuten lang den Eingang, aber sie konnte nichts Verdächtiges erkennen.
Sie brachte das Fahrrad in den Keller, lauschte in den Flur, aber nichts regte sich, kein Atmen, kein Schuh, der nervös über die Fliesen scharrte.
Sie bog um die Ecke, und noch bevor sie es sah, spürte sie Gefahr. Und tatsächlich: Ein Zettel hing an der Tür. Ihre Hände zitterten, als sie ihn abzog, denn die Vorderseite war nicht beschrieben. Aber auf der Rückseite stand: »Du entkommst mir nicht!«
Fran untersuchte das Schloss, aber sie konnte keine neuen Kratzer erkennen. Sie öffnete die Tür, ging in die Hocke und knipste mit ausgestrecktem Arm das Licht an. Niemand. Auch nicht in der Küche, im Schlafzimmer und im Bad.
Sie riss sich die Kleider vom Leib, stürzte unter die Dusche und stellte den Temperaturregler auf heiß. Er würde nicht hier einbrechen. Er würde sich nicht zeigen, würde niemals die offene Konfrontation suchen, das Gericht hatte ihm verboten, sich ihr zu nähern, hatte eine Bannmeile von fünf Kilometern um ihr Haus verfügt.
Das Schlimme war: Er musste sich gar nicht zeigen, er schlich sich in ihre Gedanken, fütterte ihre Fantasie. Damit trieb er sie in den Wahnsinn, weil sie sich vorstellte, was sein könnte, und letztlich konnte alles passieren: Er konnte sie überfallen und vergewaltigen, in der Hoffnung, sie zu schwängern; er konnte ihr aus
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