Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
unter drei Prozent.
Ihr Handy spielte die ersten Takte von Like a Satellite ; sie liebte dieses Lied, obwohl es Teenie-Kram war. Sie stellte die Verbindung her. »Miller?«
»Ich bin’s, Benjamin. Na, alles klar?« Seine Stimme klang ausgeruht.
»Logisch, Senior.« Alle nannten Benjamin Senior, weil er bereits einundsechzig war. »Und wie geht es dir?«
»So weit alles im grünen Bereich. Bis auf eine Mordsschweinerei auf dem Nordfriedhof. Grabschändung. Und wer ist Meister im Grabschänden? Braunes Gesocks! Die mögen ja so einen Mist.«
Seine Empörung war nicht zu überhören. Nazis rangierten bei ihm auf demselben Platz wie Vergewaltiger und Mörder von Kindern, und das hieß für ihn: möglichst schnell möglichst alle fassen, einbuchten und nie wieder laufen lassen.
»Bist du dir sicher, dass es Rechtsradikale waren?«, fragte Fran.
»Ganz und gar nicht. Vielleicht war es auch linkes Gesocks. Oder irgendwelche Spinner. Ich will auf Nummer sicher gehen. Deswegen rufe ich dich ja an.«
»Wenn ich für dich arbeiten soll, meldest du dich, ansonsten ist Funkstille! Wie soll ich das denn verstehen?« Fran kaute an einem Bleistift, der am oberen Ende bereits bis auf die Miene abgenagt war.
»Ich bin ein Schuft, ich weiß. Aber neben meinem Job habe ich auch noch eine Frau und vier Töchter und neun Enkel.« Aus jedem Wort troff sein schlechtes Gewissen.
»Dann solltest du deinen Kindern, die ja erst seit etwa zehn Jahren erwachsen sind, nicht mehr die Windeln wechseln und deine Enkel nicht adoptieren.«
Er schwieg einen Moment, schien tatsächlich nachzudenken. »Vorschlag zur Güte: Du gehst mit mir zum Tatort, und ich lade dich zum Essen ein …«
»Damit ich dir zwischen zwei Bissen Pizza den Fall löse?«
»Du kannst Gedanken lesen.« Benjamin schnippte hörbar mit den Fingern.
Er wusste genau, dass sie sich nach Abwechslung sehnte. Endlich wieder Frontarbeit!
»Ich bin in zehn Minuten da«, sagte Fran und unterbrach die Verbindung.
Fellmis gab grünes Licht, Fran nahm sich einen Smart und fuhr los.
Bereits am Eingang zum Nordfriedhof flatterte lustig das Absperrband der Polizei. Senior winkte Fran zu sich.
In den letzten Jahren hatte er mächtig zugelegt, seine Figur ähnelte einem Kegel, auf dem eine Bowlingkugel montiert war. Die Glatze hatte Senior, seit Fran ihn kannte. Noch so ein Papa. Fran ging auf ihn zu und drückte ihm die Hand.
»Gut siehst du aus«, sagte Senior, und er zog sie einen Weg entlang, bis sie vor einem Grab standen.
Ein kopfloses Huhn lag zwischen sprießenden Knospen und Schnittblumen, die in der kalten Nacht etwas gelitten hatten, die braunen Spritzer und Flecken auf dem Grabstein rührten mit großer Wahrscheinlichkeit von dem Blut des Tieres. Fran schauderte. Das Huhn war nicht mit einem scharfen Gegenstand geköpft worden; der Täter hatte ihm den Kopf abgerissen. Dazu gehörte Kraft, Geschicklichkeit und Gefühllosigkeit. Fran dachte an das Satanisten-Video aus München. Aber München war weit weg.
Die Inschrift des Grabsteins nannte den Namen des Mannes, der hier begraben lag: Friedrich von Solderwein. Geboren1946, gestorben 2011. Mit fünfundsechzig. Im besten Alter sozusagen. Fran las den Grabspruch laut vor: »Nur wer verzeihen kann, wird Frieden finden.« Sie feixte Senior an.
Der verzog das Gesicht. »Du hältst mich für einen Rambo, weil ich Mörder und Vergewaltiger lieber im Knast sehe als in der freien Wildbahn, ich weiß. Aber denk doch mal an die Opfer.«
Fran hob die Hand. »Du weißt genau, dass ich das genauso sehe, nur, dass ich glaube, dass sich Menschen ändern können. Auch Mörder und Vergewaltiger. Und dass der Staat besser in sinnvolle Resozialisierung investiert als in Gefängnisse.« Senior holte Luft, aber Fran hatte keine Lust auf unnötige Diskussionen. »Ruhe jetzt! Ich muss mich konzentrieren.«
Senior seufzte und machte einen Schritt zur Seite.
Fran schaute ihn an, und plötzlich fiel ihr etwas ein. »Was machst du überhaupt hier?«
»Es ist ruhig im KK11, wir haben nur eine Mordkommission am Laufen, und die ist in besten Händen. Die Neuen von der Uni prügeln sich um die Leichenermittlungen. Und da ich mich für die dunkle Seite der Menschen interessiere, hab ich mich freiwillig gemeldet. Keiner wollte an einen Fall ran, der irgendwas mit Nazis zu tun haben könnte. Zu vergiftet im Moment. Und wenn dann irgendein Stück Papier wegkommt, am besten noch im Schredder, dann …«
Fran nickte und wandte sich dem Grab zu.
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