Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
»Du willst mich mästen!«
»Genauso ist es. Schau mich an. Ich will nicht als Einziger so rumlaufen.« Er schlug sich auf seinen Bauch, der wie ein gigantischer Pudding wabbelte, winkte und verließ den Friedhof.
Fran fiel ein, dass er sie zum Essen hatte einladen wollen, aber das konnte sie ja noch einfordern.
Sie hörte Senior schimpfen und hob den Kopf. Er hatte einen Fotografen am Schlafittchen, der sich durch die Absperrung gemogelt hatte. Manchmal waren die wirklich lästig, aber sie machten auch nur ihren Job, und Presse war für sie selbst, ihre Abteilung und den ganzen Polizeiapparat wichtig. Gute Presse! Mit diesem Fotografen hatte es sich Senior auf jeden Fall verscherzt.
Sie fixierte den Grabstein, das Huhn, das Blut, schloss halb die Augen und tauchte ab in eine Welt, die ihr vollkommen fremd und doch vertraut war. »Warum habt ihr euch einen Banker ausgesucht?«, murmelte sie vor sich hin. »Warum habt ihr euch diesen Banker ausgesucht? Da liegen noch einige, die hohe Tiere waren, sogar noch höhere. Es war ein unnötiges Risiko, nur drei Schritte von eurem Versteck entfernt hattet ihr die Wahl zwischen sieben verschiedenen Gräbern von Bankern und Industriellen. Aber ihr habt das Grab des Friedrich von Solderwein bewusst gewählt. Wenn ihr Nazis seid, dann habt ihr eine persönliche Rechnung mit ihm zu begleichen. Aber ihr seid keine Nazis. Ihr seid Gläubige. Ihr habt die Messe nach allen Regeln der Kunst abgehalten. Ihr wollt nicht zerstören, ihr wollt nicht protestieren. Wollt ihr Aufmerksamkeit? Ja, das könnte sein, ein wenig, aber das ist nicht vordringlich. Ihr musstet eure Messe hier feiern, auf diesem Grab, nirgends sonst. Weil ihr etwas oder jemandem gehorcht. Weil Solderwein etwas mit euch zu tun hat.«
Sie massierte sich die Schläfen. »Sag mir, wer du bist, Friedrich von Solderwein. Sag mir, warum jemand dich auch noch im Tod verfolgt.«
*
»Jesus Christus war ein totaler Loser! Und gewichst hat er bestimmt auch.«
Lars wusste genau, wie er Frau Selm-Böden zur Weißglut bringen konnte, und er wusste genau, wie er dieses Talent in bare Münze verwandeln konnte. Wenn mehr als zwölf aus seinem Kurs keinen Bock auf Religionsunterricht hatten, dann ließ er ein paar krasse Sprüche los und kassierte im Falle des Unterrichtsabbruchs fünf Euro pro Nase. Kein Problem für die ganzen Luxuskids an diesem Reichengymnasium und kein Problem für ihn, auch wenn er schon zweimal einen Tadel deswegen bekommen hatte. Von der Schule werfen konnten sie ihn so schnell nicht, dazu war er einfach zu gut. Sein Alter war zwar ein Arschloch und ein Warmduscher dazu gewesen, aber mit einer Sache hatte er Recht behalten: »Wenn du in der Schule die Sau rauslassen willst, dann musst du richtig gut sein, dann musst du Einser haben und Zweier, dann traut sich so schnell keiner, dich zu schmeißen, dann kannst du ruhig das Maul aufreißen«, hatte er gesagt, sich noch ein Bier aufgemacht, das siebte oder achte, und war zu Mama ins Schlafzimmer gewankt, zu besoffen, um noch einen hochzukriegen, ein Glück für Mama.
Frau Selm-Böden lief rot an, ballte die Fäuste und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Eine Minute verging und noch eine, also eine Ewigkeit, dann platzte sie. »Lars Rüttgen!« Schon bei seinem Namen überschlug sich ihre Stimme. »Diesmal bist du zu weit gegangen.« Ihr Zeigefinger,der knochig und ledrig war, stach in seine Richtung, wäre er ein Florett gewesen, hätte sie damit glatt sein Herz durchbohrt. Ihr Blick flitzte irgendwo hinter ihm an der Wand herum, sie traute sich nicht, mit ihm das Duell auszufechten, wer länger starren konnte, denn sie wusste genau: Es war nicht möglich, gegen ihn zu gewinnen. Eine Stunde lang konnte er jemandem ohne Probleme in die Augen schauen. Das war nur eine Frage der Selbstbeherrschung. Es gab einen Punkt, an dem die Augen wie Feuer brannten, den musste man aushalten, dann begannen sie zu tränen und löschten das Feuer. Er hatte noch niemanden erlebt, der es auch nur annähernd bis zu diesem Punkt geschafft hatte. »Du bist ein blasphemischer Beschmutzer!«
Lars lächelte. Ein neues Schimpfwort, wie nett. Blasphemischer Beschmutzer. Einige seiner Mitschüler kicherten, das Kichern steigerte sich zum Lachen, er hob einen Finger, um sich zu melden, die Klasse wurde immer lauter, Frau Selm-Bödens Lippen verzerrten sich grotesk, sie formten Worte, die in Lars’ Ohren drangen wie die Metallstifte eines Folterknechtes unter die
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