Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
paar Monate, denn auf seiner Schule hätte es ebenfalls noch mindestens ein Jahr bis zum Abitur gedauert. Mutter durfte von alledem nichts erfahren, also würde er den Tagesablauf einhalten, nur dass er nicht zur Schule gehen, sondern bei Marvin lernen würde.
Glaubten diese erbärmlichen Christus-Knechte tatsächlich, dass sie ihn davon abhalten konnten, seinen Schwur zu erfüllen und das Abitur zu machen? Er hatte jetzt viel mehr Zeit, musste sich nicht über die Unfähigkeit der Lehrer ärgern und konnte tun und lassen, was er wollte. Hätte er das nur früher gewusst, er wäre keine Sekunde länger auf dieser beschissenen Schule geblieben.
Ihm kam eine Idee. Er schaute auf die Uhr. Es war sechzehn Uhr dreißig. Um diese Zeit müsste er zu Hause sein, also wählte er die Nummer von Dr. Meybaum, der sofort abhob und sich meldete.
»Hallo Herr Dr. Meybaum. Lars Rüttgen hier.«
»Lars! Schön, dass du anrufst. Mensch, das ist alles wirklich furchtbar. Ich versteh das nicht. Hättest du dich nur am Riemen gerissen!« Meybaum seufzte.
»Machen Sie sich mal keinen Kopf, Herr Dr. Meybaum. Ich komm schon klar. Ich mach trotzdem das Abi.«
Einen Moment war es am anderen Ende still. »Aber natürlich! Das Nichtschüler-Abi.«
»Richtig. Jetzt können Sie sich vielleicht denken, warum ich anrufe.«
Meybaum zog die Nase hoch. »Entschuldigung. Ich bin ein wenig erkältet. Selbstverständlich kannst du jederzeit zu mir kommen. Ich mache dich fit in Mathe! Aber du musst mir was versprechen.«
»Was denn?« Lars spürte einen Kloß im Hals.
»Versprich mir, dass du nichts Unbedachtes tust. Verstehst du, was ich meine?«
Lars biss einen Moment lang die Zähne aufeinander, dann holte er tief Luft. »Natürlich. Keine Angst, ich bin doch kein Amok-Läufer. Mir tut die Selm-Böden leid, ehrlich. Und ich hab mich wirklich danebenbenommen.«
Meybaum atmete hörbar auf. »Dann ist es ja gut. Dann steht unserem Mathe-Marathon nichts im Wege. Ich will, dass du mit ›sehr gut‹ abschneidest.«
Lars lachte. »Drunter geht gar nichts. Vielen Dank, Herr Dr. Meybaum. Ich weiß das zu schätzen.«
»Ach was, das ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Sonntag um drei am Nachmittag?«
»Abgemacht! Noch mal danke. Bis Sonntag.«
Dr. Meybaum verabschiedete sich, und Lars unterbrach die Verbindung.
Gestern schien die Welt unterzugehen, doch heute lief wieder alles wie am Schnürchen.
Jetzt konnte er in Ruhe die Rache an Selm-Böden und den ganzen anderen Schleimfressern vorbereiten. Er schickte eine Mail an seine Jünger und bestellte sie zum Südfriedhof. Um zwei Uhr in der Nacht an der Statue, die so treffend »Die dem Schicksal ergebene Frau« hieß. Und im selben Moment kam ihm die Idee, wie er seine Mutter dazu bringen konnte, wieder ins Leben zurückzukehren und durchzuhalten, bis Luzifer sie endlich erlöste. Auch wenn er dabei sein Fastengebot brechen musste: Er würde einen Nachkommen zeugen. Und er wusste auch schon, wer die Mutter sein würde.
*
»Ägidius Bonaventura.« Fran hielt den Ausdruck hoch. »Du siehst genauso aus, wie ich es mir gedacht habe: unscheinbar. Graue Haut, graues Haar, ein Gesicht, ebenfalls grau, das man, falls man es überhaupt wahrnimmt, sofort wieder vergisst. Deine Augen sagen nur eins: Ich bin gar nicht da, ich bin es gar nicht wert zu leben. Seit elf Jahren kommst du fast jeden Tag an das Grab des Friedrich von Solderwein.«
Sie betrachtete die Bilder des Bankers, die sie unschwer im Internet gefunden hatte. Es gab Hunderte von ihm, die vor und während des Prozesses gemacht worden waren. Solderwein war das genaue Gegenteil von Bonaventura. Präsent wie ein Schauspieler, selbst auf der Anklagebank, siegessicher lächelnd, sogar nach Verkündung des Urteils, das sein berufliches und gesellschaftliches Aus bedeutet hatte. Solderwein war ein Meister der Verstellung, ein Meister der Selbstkontrolle und ein Meister des Blendens. Kein Wunder bei der Erziehung und der Karriere. Solderweins Lebenslauf war im Internet minutiös aufgelistet. Bis zum Tag des Urteils. Danach hatte ihn die Öffentlichkeit vergessen, und er hatte wohl alles dafür getan, dass es auch so blieb. Selbst sein Wohnort war nicht bekannt gewesen. Fran zweifelte nicht daran, dass er entweder mit Ägidius zusammengelebt hatte oder in einer Wohnung, die auf den Namen Bonaventura gemietet war.
»Du bist der Herr, Friedrich, und du, Ägidius, der Knecht. Daran besteht kein Zweifel.« Fran warf einen Blick auf die Uhr. Zu
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