Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
musste. Ab jetzt kann ich frei wildern, kann mir meine Gästeganz spontan aussuchen. Doch jetzt muss ich mich beeilen. Ich darf nicht zu spät zum Dienst kommen.
*
Lars räumte das Geschirr ab. Mutter hatte ihr Mittagessen nicht angerührt. Er musste sich etwas überlegen. Künstliche Ernährung vielleicht? Sie würde sich wehren. Wenn sie so weitermachte, war sie in ein paar Wochen tot. Doch sie musste noch über drei Jahre durchhalten. Bis Luzifer kommen und sie heilen würde. Denn er hatte die Macht dazu und würde seinem Wegbereiter auf der Erde diesen Wunsch nicht abschlagen. Aber Mutter hatte jeden Lebensmut verloren. Was konnte er nur tun?
Auf jeden Fall durfte sie nicht erfahren, dass sie ihn von der Schule geworfen hatten. An und für sich war das nichts Schlimmes, aber er hatte Mutter ja hoch und heilig versprochen, das Abitur zu machen und zu studieren.
Er seufzte. »Oh Luzifer, Herr der Welt, warum kannst du mich nicht früher erlösen?«
Lars wusste natürlich, warum. Noch achtzehn Schlüssel musste er beschwören, und alle achtzehn mussten nach festgelegtem Ritus im magischen Schloss gedreht werden, ansonsten war seinem Herrn der Weg versperrt. Nicht, weil er nicht die Macht gehabt hätte, jederzeit zu tun, was er wollte, sondern weil die Beschwörung die mathematische Formel darstellte, die das Universum zwingen würde, dass sich Luzifer der Erde erbarmte. Denn das Universum gehorchte der Mathematik. Schon Pythagoras hatte es gewusst, und hätte er heute gelebt, er wäre ein Einstein hoch zehn gewesen. Die richtige mathematische Formel ermöglichte alles. Die meisten Menschen wussten nicht, dass es ohne Mathematik keine Zivilisationgeben konnte: keinen Computer, keine Waschmaschine, kein Telefon, keinen Hamburger und auch keinen Zahnarzt. Denn ohne Mathematik gab es auch keine Chemie und keine Physik.
Einen Weg gab es, den Prozess zu beschleunigen, aber Lars schreckte davor zurück, und vor allem war er sich nicht sicher, ob Luzifer es billigen würde und ob es nicht die mathematischen Dimensionen störte. Er nahm einen Rechenblock zur Hand und begann Formeln aufzuschreiben, die die Henochischen Schlüssel als Zahlenwerk interpretierten. Das Ergebnis war zufriedenstellend. Es war möglich, aber das Opfer musste auf jeden Fall ein Mann sein, älter als dreißig. Mehr hatten die Zahlen ihm nicht verraten.
Er nahm die Post zur Hand. Rechnungen. Die Welt, in die er geworfen worden war, zeigte ihre hässlichste Fratze. Mammon musste her. Aber wenn er nicht mehr zur Schule ging, fiel das Kindergeld weg, und das Jobcenter, das ihm die Sozialhilfe bewilligte, die sie jetzt Arbeitslosengeld II nannten, würde ihm erheblichen Ärger bereiten mit Ein-Euro-Job, Weiterbildung und so einem Mist. Er hatte keine Lust, acht Stunden am Tag irgendwo Laub aufzusammeln. Also musste er handeln. Er scannte die letzte Schulbescheinigung ein, veränderte mit einem Bildbearbeitungsprogramm die Daten und druckte die Datei aus. Er betrachtete das Ergebnis. Seine Fälschung sah genauso aus wie die echte Schulbescheinigung. Zusammen mit dem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts steckte er sie in einen Briefumschlag. Der musste heute noch raus, damit die Bewilligung rechtzeitig kam, sonst war er am Monatsanfang pleite und konnte die Miete nicht überweisen. Außerdem musste er der Kindergeldstelle die Bescheinigung ebenfalls schicken. Aber erst in zwei Monaten. Auf einen gelben Klebezettel schrieb er »Kindergeld nicht vergessen!« und hängte ihn an den Rand seines Computermonitors.
Das größte Problem war das Abitur. Gab es eine Möglichkeit, es zu kaufen? Er googelte, und tatsächlich, im Ausland konnte er das Abitur kaufen, für umgerechnet zwölftausend Euro. Unmöglich, dafür müsste er eine Bank ausrauben, und das war zu riskant. Es gab Privatschulen – genauso unbezahlbar. Es gab den zweiten Bildungsweg. Dafür brauchte er eine Berufsausbildung oder etwas Vergleichbares – das dauerte zu lange. Was für ein beschissenes Land! Er warf den Kopf nach hinten und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Er versuchte es mit »Abitur ohne Schule«. An neunter Stelle wurde er fündig. Zuerst wollte er es nicht glauben, aber als er die entsprechenden Seiten aufrief, schlug ihm das Herz vor Freude bis in den Hals: Es gab ein Nichtschüler-Abitur.
Das würde zwar noch etwas dauern, denn nach dem Rausschmiss musste er ein Jahr warten, bevor er zugelassen wurde. Insgesamt verlor er aber nur ein
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