Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
sein Bett, einen Kleiderschrank und seinen Schreibtisch. Das Zimmer hatte kein Fenster, eine echte architektonische Meisterleistung, er schaltete Licht ein, setzte sich an den Schreibtisch, nahm die Kalligrafiefeder, die ihm Mutter zur Kommunion geschenkt hatte, tauchte sie in die schwarze Tinte und malte mathematische Formeln aus der Differenzial- und Integralrechnung. Normalerweise verschaffte ihm das ein wenig Befreiung, wenn seine Seele, so wie jetzt, drohte überzulaufen. Und das passierte immer dann, wenn er daran dachte, dass ihn sein Vater im Stich gelassen hatte. Aber heute half es nicht. Ein Tropfen brachte die geschwungenen Klammern durcheinander. Er hielt inne. Noch ein Tropfen. Langsam schob er das Heft nach hinten. Dann ließ er seinen Tränen freien Lauf.
*
Wie immer war die Zeit verflogen. Fran war erst gegen siebzehn Uhr in die Festung gekommen, und noch immer hatten sie Bonaventura nicht gesprochen.
Senior hatte nur abgewinkt. Die Arbeit stand ihm schon bis zum Hals. Er hatte bis jetzt nichts anderes getan, als denDienstplan zu koordinieren und die eingehenden Protokolle zu überfliegen.
Böhrerjan hatte ihnen bis Montag einen Maulkorb verhängt, eine Pressekonferenz würde am Dienstagmorgen stattfinden. Fran war gespannt, wer auf dem Podium sitzen würde. Sie selbst mit Sicherheit nicht, und Böhrerjan würde einen Teufel tun, dort aufzutauchen. Die Leiter der Presseabteilungen des Präsidiums und des Landeskriminalamtes würden sich den Journalisten stellen müssen, Mario Hartbäcker, der Staatssekretär, würde sich die Medienpräsenz nicht nehmen lassen, denn man konnte davon ausgehen, dass alles, was bei den Medien Rang und Namen hatte, auftauchen würde. Die Preisfrage lautete: Wann konnte der erste Beamte das Wasser nicht mehr halten? Wann sickerten die ersten Gerüchte durch?
Fran hielt es für vollkommen falsch, die Öffentlichkeit nicht umfassend zu informieren. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätte sie den Täter direkt angesprochen, ihm mitgeteilt, dass sie verstanden hatte und dass er ganz oben auf der Liste der Gejagten stand. Er musste nervös gemacht werden, unter Druck gesetzt werden, es musste ihm klargemacht werden, dass er unter Beobachtung stand – und dass er keine weiteren Botschaften senden musste. Dann würde er Fehler machen, die sie direkt zu ihm führen würden.
Endlich konnten sie sich loseisen und zu Ägidius Bonaventura aufbrechen. Sie brauchten fast eine Stunde bis Kaiserswerth, die Baustellen für die U-Bahn blockierten den Verkehr. Sie fanden einen Parkplatz direkt vor dem Haus, in dem Bonaventura wohnte. Es war ein kleines schmuckes Gebäude, mit einem Erker im Erdgeschoss. Alles sauber, die Fassade weiß gestrichen, kein Unkraut, vor der Tür lag eine Fußmatte, die anscheinend erst gestern dorthin gelegt worden war. Nett, adrett und unauffällig. Er tut alles, um nicht aufzufallen, tut alles, damit ein normaler Mensch einfach vorbeigeht. Die Schrift auf dem Schild war so klein, dass man davorstehen musste, um sie entziffern zu können. Oder war es nur ihre eigene verzerrte Wahrnehmung?
»Ägidius Bonaventura« stand in winzigen grauen und schmucklosen Lettern auf der Klingel. Sie drückte den Knopf, einen Moment später hörte sie seine Stimme aus der Türsprechanlage, dieselbe verhuschte Stimme, die sich zu verstecken schien, als sie ihn vorhin angerufen hatte und ihn gefragt hatte, ob sie vorbeikommen dürften. Er hatte überraschenderweise sofort zugesagt.
Der Türöffner summte, die Tür sprang einen Spalt weit auf. Sie betraten einen kühlen Flur, der Boden war mit grünen Kacheln ausgelegt, die Wände in einem weichen Eierschalenton gestrichen. Hier lebte niemand, der vor Emotionen überschäumt, stellte Fran fest.
Ägidius Bonaventura wohnte in der zweiten Etage, einen Aufzug gab es nicht. Hatte Solderwein das Erdgeschoss bewohnt? Sie stiegen die Treppe hinauf, die Tür stand einen Spalt weit offen, Fran klopfte und schob sie auf.
»Bitte kommen Sie herein«, sagte Ägidius Bonaventura.
Sie traten ein, der Duft von frischem Kaffee und Gebäck stieg Fran in die Nase. Sie taxierte die Inneneinrichtung. Möbel aus den Neunzehnhundertzwanzigern. Bürgerlich, keine Antiquitäten, mit denen man ein Geschäft hätte machen können. Schwere Teppiche, zum Teil abgewetzt, Strukturtapete wie in einem Biedermeierkaffeehaus und dazu die entsprechenden grünen Glaslämpchen an den Wänden. Die ganze Wohnung strahlte stabilen Konservativismus aus. Hier
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